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101 Jahre - Eine besondere Lebensgeschichte

Unsere Alumni sind facettenreich und doch verbindet sie vieles: Sie haben einst an der Universität die persönlichen Interessenschwerpunkte gefunden, den Grundstein für ihren eigenen beruflichen Werdegang gelegt und sind heute über die ganze Welt verteilt. Doch nur die wenigsten haben das erreicht, was Jochen Schmidt im letzten Jahr erleben durfte:

Ein Besuch bei Jochen Schmidt, Alumnus der „Siegener Bauschule“

Rundgang 3
Empfang bei Jochen Schmidt mit Grapefruit-Cocktail

Bereits 2022 feiert unser Alumnus seinen 100. Geburtstag. Wir bekamen nun die Möglichkeit, für einen Tag in das Leben und die Erzählungen des nun schon 101-Jährigen eintauchen zu dürfen. Im Juni 2023 besuchten wir unseren Alumnus Joachim Schmidt in seiner Wahlheimat Essen. Die Überraschung war gelungen, als er uns zur Begrüßung mit seinem selbst gemachten Grapefruitcocktail zu einem Gespräch in sein Wohnzimmer einlud. Wie wir im Laufe unseres Interviews noch erfahren würden, spiegelt dieses Zimmer unseren Gastgeber und sein Leben gut wider: Moderne Elemente, aber auch viele Bücher aus dem vergangenen Jahrhundert, schwarz-weiße Bilder und Andenken zeigen, wie viele Erinnerungen das Leben von Jochen Schmidt prägen. Zwischen der herzlichen Lebensfreude und der Präsenz von früheren Zeiten werden wir an diesem Tag eingeladen, Teil von Jochen Schmidts Welt zu werden. Und schnell wird klar: Wo auf den ersten Blick vermeintlich wenig gleiche Erfahrungen und Interessen aufgrund des Altersunterschieds vermutet werden könnten, lassen sich schnell viele Verbindungen erkennen. Sei es das Studium in Siegen, die Liebe zur Lyrik oder schlicht und ergreifend das Stellen von menschlichen Fragen zur Gerechtigkeit und Selbstfindung.

Der Start ins Leben im Schatten der Ungewissheit

Jochen Schmidt studierte in den Vierzigerjahren in Siegen an der Bauschule für Wasserwirtschaft und Kulturtechnik. Später wurde sie zur Bauschule für Wasserwirtschaft, Kultur- und Tiefbau sowie für Hochbau als eine der Vorgängerinstitutionen der heutigen Universität Siegen. Der ausgebildete Bauingenieur lernte hier beispielsweise, wie Entwässerungssysteme der Bauern koordiniert wurden, er wurde aber auch über den Aufbau von Abwasserversorgung oder sogar die Fischzucht geschult. Teil der Examina war es unter anderem, in unter fünf Stunden einen gesamten Bauernhof zu entwerfen.

Jochen Schmidt ist in Geisweid geboren und in Siegen und Weidenau aufgewachsen. Ein Studium in einer anderen Stadt wie beispielsweise Köln kam nicht in Frage; nur wenige Kinder aus dem Siegerland hatten damals die finanziellen Ressourcen, um in entfernten Städten studieren zu können. Auch der Besuch eines Gymnasiums konnte Jochen Schmidt nicht ermöglicht werden, zumal die Familie infolge der Inflation verarmte. Seine Eignung für das Studium musste daher über Praktika nachgewiesen werden. Doch auch andere Bedingungen erschwerten die Möglichkeit eines Studiums. So nennt Schmidt auch die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend als eine Voraussetzung für den Antritt des Studiums; er wollte aber nicht beitreten. „Glücklicherweise hatte ich einen Freund, welcher mir eine gefälschte Bescheinigung über die Mitgliedschaft ausstellen konnte“, so Jochen Schmidt.

Rundgang 3
Im Gespräch mit Jochen Schmidt in seiner Wohnung in Essen

Jochen Schmidt war neben den Herausforderungen, mit denen viele Studierende auch heute konfrontiert sind, auch Extremsituationen ausgesetzt. Wo die meisten Studierenden Prüfungen, viele neue Eindrücke und Leistungsdruck in ihren Alltag aufnehmen, spitzte sich zu seiner Studentenzeit die politische Lage zu, was eine besondere Belastung mit sich brachte. Nach zwei Semestern musste Jochen Schmidt sein Studium unterbrechen, da er in den Krieg einberufen wurde: „Wir mussten sehr viel für unser Studium arbeiten, und als wir eingezogen wurden, haben wir uns schon gefragt, warum wir das Ganze gemacht haben. Denn die Wahrscheinlichkeit, aus dem Krieg nicht wiederzukommen, war groß.“ Doch die kurze Zeit des Studiums brachte ihm zu Kriegszeiten einen Vorsprung gegenüber anderen: Zum einen wurde er als Student anerkannt, zum anderen gab es auch fachliche Vorteile. „Denn bereits im ersten Teil meines Studiums hatte ich die Möglichkeit bekommen, mich mit der Wiesenbewässerung und Entwässerung vertraut zu machen. Dieses Wissen wurde sehr geschätzt“, blickt Schmidt auf diese Zeit zurück. So konnte er sich auf diesem Gebiet vielfach nützlich machen.

Wo heutzutage die Bildung für viele Menschen hilfreich für die Selbstentwicklung ist oder zum beruflichen Erfolg verhilft, war sie für unseren Alumnus auch auf anderen Ebenen von essentieller Bedeutung. Noch vor seinem Studienbeginn belegte Schmidt freiwillig einen Englischkurs, was ihm das Leben retten sollte: „Nachdem der Krieg bereits vorbei war, stieß ich auf einen amerikanischen Soldaten, der mich trotz Kriegsende erschießen wollte. Da ich jedoch die englische Sprache ein wenig beherrschte, konnte ich den Soldaten in seiner Muttersprache dazu bewegen, von der Ermordung abzusehen.“

Neben den vielen traumatischen Erfahrungen, die der Krieg für viele Menschen mit sich brachte, gab es auch immer wieder kleine Momente der Hoffnung und Menschlichkeit. So tauschte Jochen Schmidt beispielsweise einst seinen Fotoapparat gegen ein Akkordeon ein; ein Instrument, das ihn seitdem ein Leben lang weiter begleitet. Wenn der Blick heute durch sein Zuhause schweift, befinden sich ein Akkordeon und ein Klavier in einer Ecke des Raumes. Allgemein prägt das Künstlerische in den verschiedensten Formen das Leben des technisch gebildeten Ingenieurs. Neben der Liebe zur Lyrik und der eigenen Begabung lyrisch zu texten, gibt uns Jochen Schmidt bei unserem Besuch eine Kostprobe seines weiteren musikalischen Talents: Das Klavierspielen. Seit seiner Kindheit begleitet ihn das Musizieren und auch heute noch fliegen seine Hände leicht und präzise über die Tasten des Klaviers.

Rundgang 3
Gemeinsam auf dem Weg zum gemeinsamen Mittagessen beim Golfclub

Doch wie gelingt es, nach dieser prägenden und schweren Zeit, sich wieder in der Rolle des Studenten einzufinden? Die Nachkriegszeit, in der Jochen Schmidt sein Studium zum Bauingenieur wieder aufnahm, brachte viele Hürden und Schwierigkeiten mit sich. Er und seine Kommilitonen erlebten ein Studentenleben, was in manchen Punkten dem heutigen gar nicht so fremd ist. So gab es ebenso den einen oder anderen Anlass, bei dem sich die Studenten zusammenfanden und feierten. Doch bei einer Feier trat ein Problem auf, welches kreativ und nicht ganz legal gelöst wurde: „Wir trafen uns einmal zum Feiern. Jedoch fand die Feier Anfang März statt, es war also noch ziemlich kalt. Das Problem war, dass wir kein Holz für ein Feuer hatten. Also entschlossen wir uns kurzer Hand dazu, einen Telegraphenmast zu klauen, ihn zu zersägen und als Brennholz zu verwenden. Der damalige Direktor hörte von diesem Diebstahl, aber er erkannte unsere Not und die Sorge um unser Fest. Er stellte sich schützend vor uns, und so wurden wir letztendlich für unsere Aktion nicht bestraft.“

Beruflicher Erfolg und die Konfrontation mit menschlicher Ungerechtigkeit

Nachdem Jochen Schmidt sein Studium erfolgreich abschloss, stand er vor einer Entscheidung, die alle Studierenden treffen müssen: Wo werde ich beruflich einsteigen? Werde ich in einer neuen Stadt arbeiten? Was ist die beste Option? Die Jobmöglichkeiten der frühen Nachkriegszeit waren jedoch stark begrenzt. Die Währungsreform sowie geschwächte Unternehmen erschwerten den beruflichen Anfang. Doch Jochen Schmidt hatte Glück.

Nach bestandenem Staatsexamen Anfang 1948 betraute die Stadt Oberhausen/Rheinland den jungen Bauingenieur mit der Instandsetzung, der Neugestaltung und dem Neubau von Straßen im südlichen Stadtgebiet. In Oberhausen lernte er auch seine Frau kennen; fünf Kinder entstammen dieser Ehe und inzwischen blickt er auf eine stattliche Zahl von Enkeln und Urenkeln zurück. Beruflich folgte eine neue Aufgabe an der Wasserentsorgung für Baden-Württemberg – der sogenannten Bodensee-Wasserleitung – in Stuttgart, wofür er die Leitung des ersten Bauabschnitts übertragen bekam. Andere Entwässerungs- und Tiefbaumaßnahmen folgten in Baden-Württemberg aber auch in Nordrhein-Westfalen, bis der berufliche Werdegang eine Wendung nahm. Der Landschaftsverband Rheinland hatte ein Neubauamt in Essen gegründet, wo Schmidt nach Planungsarbeiten die erste Bauleitung am „Ruhrschnellweg“, der heutigen A 40, in Mülheim an der Ruhr übertragen wurde. Im Rahmen dieser Baumaßnahme wurde auch eine neue Straßenbautechnik verwirklicht, die dem aufkommenden Straßenverkehr sicherer machen sollte: die Aufhellung der Fahrbahn zur besseren Sicht bei Nacht und Nässe. Weiterhin folgte die Berufung als Leiter des Tiefbauamtes der Stadt Hüttental sowie die Mitarbeit in der Forschungsgesellschaft für Straßenwesen. In diese Zeit fiel auch unter seiner Mitarbeit die Gründung der Vereinigung von Straßenbau- und Straßenverkehrsingenieuren (VSVI) in Köln.

Rundgang 3
Ein musikalischer Abschied

Neben vielen schwierigen Entscheidungen, großer Verantwortung und den verschiedensten beruflichen Erfahrungen bleibt Jochen Schmidt besonders die Möglichkeit, auf dem Weltkongress in München sprechen zu können, prägend in Erinnerung. Sein Vorschlag und seine Idee, womit eine besonders genaue Messung von idealen Oberflächen ermöglicht werden konnte, traf auf großen Zuspruch. Entsprechend gebaute Fahrzeuge werden einige Jahre später verwirklicht und kombinieren Meßeinrichtungen, im den Zustand der Straßenoberflächen zzu vermessen und zu dokumentieren. Der TÜV sowie andere Behörden bedienen sich noch heute dieses Kontrollverfahrens.

Wo die Vergangenheit im Jetzt existiert

Joachim Schmidt blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück. 101 Jahre, geprägt durch die verschiedensten Erinnerungen. Wenn er heute an sein Leben denkt, findet er bewegende Worte hierfür: „Man strebt ein Verhalten an, das dazu beiträgt, dass das Leiden im Alter nicht größer wird. Man wird vorsichtiger zu sich selbst. Ich spüre aber auch die Notwendigkeit, die Erfahrungen, die ich gemacht habe, anderen Menschen nahezubringen. Ich möchte all das nicht umsonst gemacht haben. – Man kommt immer zu neuen Ein- und Ansichten, nimmt neue Wertungen vor, die man früher gar nicht gesehen hat. Vieles gewinnt erst im Rückblick an Zusammenhang, es erhält eine gewisse Art von Logik. Diese wichtige Bedeutung für sich selbst oder auch für andere erkennt man häufig erst viel später. Wie Erich Kästner in einem seiner Gedichte sagt: ‚Mit jedem Pulsschlag wird aus Heute Gestern‘ – So ist das mit dem Vergehen, noch erinnert man sich aber vielleicht bald nicht mehr. Es gehörte auch viel Mut dazu, dieses Gespräch zu führen.“

Wir führten dieses inspirierende Gespräch mit Jochen Schmidt bei einem gemeinsamen Besuch bei ihm in Essen, festgehalten und geschrieben von Antonia Blumberg.

 
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