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Berichte - Santiago de Compostela

El Caminho de Santiago -
Nordspanien in Geschichte und Gegenwart

Einleitung Berichte Bilder Downloads

Santiago de Compostela (Mittwoch, 23.10.2002)

Am viel zu verregneten Morgen des 23.10. verließen wir unser Hotel in Sarria und begaben uns auf eine mehrstündige Busfahrt, deren Ziel das eigentliche Hauptziel der Exkursion war: Santiago de Compostela, Endpunkt des Jakobspilgerpfades im Nordwestzipfel Spaniens. Gregorianische Gesänge, die uns in dezenter Art und Weise über die Lautsprecheranlage des Busses umhüllten, stimmten uns atmosphärisch auf unsere bevorstehende Ankunft ein. Je näher wir der heiligen Stätte kamen, desto besser wurde dann auch das Wetter, so dass wir gegen Mittag bei strahlendem Sonnenschein die alte Pilgerstadt erreichten.

Angekommen auf dem großen Hauptplatz Santiagos, trafen wir uns mit unserem privaten Stadtführer, Professor Nuñez von der historischen Fakultät der dortigen Universität. Er begann seine Führung mit einigen Erläuterungen zur allgemeinen Geschichte und Bedeutung Santiagos. So gilt Santiago als die politische Hauptstadt Galiziens, in der nach wie vor die Tourismusbranche, wie schon zu Zeiten der mittelalterlichen Pilger, den größten Arbeitgeber darstellt, nur dass die Pilger jetzt Touristen heißen, auch wenn das nicht heißen soll, dass es keine Pilger mehr gäbe - im Gegenteil. Zweiter großer Arbeitgeber ist die Provinzregierung. Seit dem Aufkommen der Jakobspilgerfahrt ist der Erzbischof von Santiago de Compostela, dessen Palast den großen Platz direkt gegenüber der Kathedrale säumt, der reichste Bischof Spaniens (bzw. der vorausgehenden Teilkönigreiche) gewesen. Gerade am Hauptplatz von Santiago ist dieser Reichtum nicht zu übersehen und manifestiert sich in der "enormen Wucht" der kirchlichen Prachtbauten, in denen seinerzeit auch die Armenfürsorge und die Pilgerversorgung untergebracht waren (ehem. Kranken- und Waisenhaus zur Linken des Bischofspalastes).

Unserer Stadtführer führte uns zunächst an der Nordseite der Kathedrale hinauf in Richtung der oberhalb gelegenen Altstadt Santiagos. Durch einen Seiteneingang gelangten wir ins Innere der Kathedrale, in der wir uns aber nur sehr kurz aufhielten, da gerade eine mehrsprachige Messe für die Pilger gehalten wurde. Daraufhin zeigte uns Prof. Nuñez das ehemalige Priesterseminar gegenüber der großen Kathedrale, in dem heute ein Studentenwohnheim untergebracht ist. Angeschlossen an dieses ehemalige Priesterseminar ist die Barockkirche San Martino, die wir ebenfalls besichtigten. In San Martino fallen besonders der überreiche barocke Hochaltar (von bösen Zungen als Kitsch bezeichnet) und der imposante Kuppelbau der Kirche ins Auge. Auf den äußerlich oft schlechten bzw. stark bemoosten Zustand der Kathedrale und auch von Teilen San Martinos angesprochen, erklärte Prof. Nuñez, dass die Instandhaltung der großen alten Bauwerke Santiagos sehr aufwendig und teuer sei. Bedingt sei dieser hohe Instandhaltungsaufwand durch das feucht-nasse Seeklima Galiziens, der regenreichsten Region Spaniens. So waren Teile der Fassade von San Martino gerade frisch gesandstrahlt worden. Nach der Aussage von Prof. Nuñez müssen diese Arbeiten alle drei bis vier Jahre wiederholt werden, um die Gebäude zu erhalten.

In einem kleinen allgemeineren Vortrag vor dem Hauptportal der Kirche San Martino ging Prof. Nuñez auf die spezielle Einwanderungsproblematik Spaniens, insbesondere Santiagos ein. Nach seinen Ausführungen sind in der galizischen Tourismusbranche hauptsächlich Einwanderer aus Lateinamerika beschäftigt. Die meisten Einwanderer stammen aus Peru, Ecuador, Kolumbien, Mittelamerika und Argentinien. Nur die Einwanderer aus Argentinien, die der dort herrschenden wirtschaftlichen Depression entfliehen wollen, werden in Galizien nicht als Fremde, sondern als heimgekehrte Galizier empfunden. Dies ist im Zusammenhang mit der Historie des Landes zu sehen, in der Galizien über einen langen Zeitraum ein klassisches Auswandererland war, was sich nun in der neusten Zeit umkehrt.

Auf dem Weg durch die Altstadt Santiagos verwies Prof. Nuñez besonders auf das mit einer Gedenkplatte gekennzeichnete Geburtshaus des galizischen Historikers Manuel Martinez Murgina (1833-1923), der als Wiedererfinder des galizischen Nationalismus bezeichnet wird. In der Traditionsfolge solcher geistigen Vorkämpfer der galizischen Eigenständigkeit und Identität sieht man sich auch an der Universität von Santiago de Compostela, die heute neben dem Pilgerwesen und der Provinzregierung den dritten großen Pol der Stadt bildet. Mit 30000 Studenten ist diese Universität die größte Galiziens, ihre Fakultäten sind über die ganze Stadt verteilt und teilweise in historischen Bauten untergebracht. So auch im Falle der Fakultäten Geschichte, Geographie und Kunst, welche mit ihren 1000 Studenten und ca. 140 Dozenten in einem säkularisierten Jesuitenkolleg untergebracht sind. Wir in unserer Eigenschaft als Siegener Geschichtsstudenten empfanden in der Tat ein gewisses Neidgefühl, da wir nie in den Genuss gekommen waren (und wohl in nächster Zeit auch nicht werden), nach Vorlesungen im fakultätseigenen Kreuzgang zu lustwandeln.

Im reich geschmückten barocken Fachbereichssaal, der dem ein oder anderen Exkursionsteilnehmer eine mehr oder weniger deutliche Äußerung des Erstaunens entlockte, ließen wir uns nieder (einige wählten fast instinktiv die Plätze, die normalerweise die Direktion des Fachbereichs ihr Eigen nennt) und horchten aufmerksam den Erzählungen unseres Stadtführers. Prof. Nuñez gab uns einen Überblick über die Geschichte und die Kultur Galiziens und ging dabei besonders auf die Beziehungen zu Spanien und Portugal bzw. auf die Einflussnahme der beiden Länder in Galizien ein. Außerdem erläuterte er verschiedene Probleme, wie z.B. Armut und Massenauswanderung in der Neuzeit aufgrund des schwachen wirtschaftlichen und ökonomischen Wachstums und den Aufschwung des Nationalismus zu Beginn unseres Jahrhunderts. Schließlich gab uns Prof. Nuñez einen Überblick über die Zeit unter Franco und die Entwicklung des Landes in der jüngsten Vergangenheit, den Aufschwung des tertiären Sektors und die mit dem EU-Beitritt verbundenen Probleme für die beiden wirtschaftlichen Hauptzweige der Gegend, die Fischerei und die Werftindustrie - Tatsachen, die anscheinend auch heute wieder zu einem Erstarken nationalistischer Kräfte führen.

Dietrich Menn, Jan Etzbach

 
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