Forschungsstelle transnationale Kulturgeschichte
"Geschichte für alle" in europäischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts
Projekt zur Erforschung transnationaler Bezüge in der Popularisierung von Geschichte
- Prof.'in Dr. Raphaela Averkorn, Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte
- Prof.'in Dr. Claudia Kraft, Professur für Zeitgeschichte
- Prof.'in Dr. Bärbel P. Kuhn, Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte
- Prof.'in Dr. Angela Schwarz, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte
Das Projekt "Geschichte für alle"
Die Popularisierung von Wissenschaft hat als Forschungsfeld bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein erstaunlich wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das galt besonders für die Naturwissenschaften, aber ebenso für bestimmte Geisteswissenschaften. Die Geschichtswissenschaft hat sich dem Feld in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten nach und nach angenähert, mit erkennbaren Schwerpunktsetzungen – und Lücken. Schwerpunkte wurden auf bestimmte Disziplinen, Themen, Medien oder Epochen gelegt, etwa auf die Biologie, auf populär-naturwissenschaftliche Zeitschriften, auf das frühe 19. Jahrhundert. Geschichte und ihre Verbreitung hat, wenn nicht ohnehin nur die akademische Geschichtsschreibung untersucht wurde, in der Form des Bestsellers (Kampf um Rom, The Decline and Fall of the Roman Empire), mit Blick auf einzelne Epochen (vor allem Antike und Mittelalter) oder jene Historiker interessiert, die sich an ein breites Publikum wandten. Vorliegende Untersuchungen konzentrieren sich zumeist auf eine Epoche und ein Land. Eine systematische Auswertung eines populären Mediums wie der Zeitschrift auf die Art ihrer Geschichtsvermittlung hin, eine Auswertung, die vor allem den Vergleich mehrerer europäischer Länder anstrebt und dabei den transnationalen Bezügen nachginge, ist bisher noch nicht erfolgt.
Mit Hilfe der qualitativ-inhaltlichen Auswertung streben die Teilprojekte eine diachrone und national vergleichende Untersuchung von Inhalten und Präsentationsformen sowohl in textlicher wie in bildlicher Form an. Es sollen zunächst die Besonderheiten für die Beispielfälle herausgearbeitet, dann in einem zweiten Schritt daraufhin miteinander verglichen werden, welche Übereinstimmungen, Austauschprozesse und Transfers sowie Unterschiede zwischen ihnen festzustellen sind. Während deutsche, französische und britische Zeitschriften auf ähnlich breite Leserkreise hoffen konnten, stellte sich die Situation in Spanien und Portugal aufgrund der Alphabetisierungsrate und einer geringen Verankerung des Pressewesens in der Gesellschaft merklich anders dar. Ließ diese Ausgangslage andere Inhalte in den Vordergrund rücken, andere Präsentationsformen aufsteigen? Angesichts der Bedeutung der Nation bzw. ihrer Konstruktion im Laufe des Jahrhunderts ist eher davon auszugehen, dass bei allen Abweichungen in den Details die Parallelen größer waren als die Unterschiede, bestimmte Strukturen von Narrativen immer wieder auftauchten und das Medium Zeitschrift entscheidenden Einfluss auf die Darstellungsformen ausübte, die nicht national spezifisch waren. Mit dieser These als Leitlinie versteht sich das Projekt als Beitrag zur Geschichte der Entstehung einer europäischen Kultur.
Geschichte für alle in europäischen Zeitschriften des 19. Jahrhundert berührt vielfältige Aspekte und Ansätze: wissenssoziologische, gesellschaftliche, ökonomische, politische, kulturelle, mentalitätsgeschichtliche.
Diachron für das 19. Jahrhundert soll analysiert werden, mit welchen Themen und mit welchem Tenor Geschichte, in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Portugal und Polen vermittelt wurde. Welche politische Konjunktur und welches gesellschaftliche und kulturelle Klima nahm Einfluss auf Auswahl und Schwerpunktsetzungen bei den historischen Artikeln? Wie veränderte sich die Vermittlung und wie lässt sich dies erklären? Gefragt werden soll nach "Meistererzählungen", deren wichtige Multiplikatoren die Zeitschriften waren. Dabei ist zudem von Interesse, ob vor allem nationale Narrative den Tenor bestimmten, oder ob es auch für das Europa des 19. Jahrhunderts spezifische Narrative gab, die aber nur in einer wie hier geplanten vergleichenden Untersuchung ermittelt werden können.
Die zentralen Fragen verweisen bereits auf die methodische Vorgehensweise. Die diachrone Analyse versteht die Zeitschriften als Quellen, die Auskunft geben erstens über die Auswahl der für ein breites Publikum mitteilungswert erachteten Inhalte, zweitens über deren Deutungen. Sie werden damit drittens zugleich als aufschlussreiche Quellen über das Geschichtsbild, das gesellschaftliche Selbstbild und die Mentalität einer Zeit verstanden. Die populären Zeitschriften werden als Träger und Übersetzer und somit als Indikatoren des Zeitgeistes verstanden. Die hermeneutische inhalts- und textanalytische Untersuchung soll in diesem Zusammenhang zudem nach den „underlying assumptions“, den verborgenen Vorannahmen fragen, die das nationale Selbstbild und die Wahrnehmung der Anderen prägten.
Quantitative Fragen werden für die Untersuchung insofern von Interesse sein, als in der diachronen Perspektive der Raum, der bestimmten Themen gewidmet wird, auch etwas über die Bedeutung aussagt, die ihnen zugemessen wird. Obwohl die Inhalte und Aussagen der Zeitschriften keine unmittelbaren Schlüsse auf die Rezeption zulassen, waren die auflagenstarken populären Illustrierten dennoch prominente Vermittler von Geschichte. Indem sie Geschichtsbilder und Einstellungen einer Zeit und einer Gesellschaft an weite Kreise weitergaben, waren sie zugleich ernstzunehmende Faktoren der nationalen Geschichtskultur.