Abstracts
- André Barz: Nichtprofessionelle Theaterkritik im Internet
- Ulla Fix: Erziehung oder Ermunterung? - Die sprachlich-mediale Konstruktion eines Publikums im Streit um Theaterkonzeptionen
- Matt Hills: From Media Fandom to Art Fandom? Appreciating an Exnominated Discourse
- Werner Holly: Sprechendes Publikum?
- Raphaela Knipp: „Also nicht den üblichen Zugang, Buch zu und weg“ – Literatur als ortsbezogene Praxis
- Hubert Knoblauch: Publikumsinteraktion und Publikumsemotion
- Marcus Müller/Jörn Stegmeier: Twittern als #Alltagspraxis des Kunstpublikums
- Karola Pitsch: Ein Roboter als Museumsführer? - Besucherpraktiken des Umgangs mit einem neuen medialen Artefakt in einer Museumsausstellung
- Axel Schmidt: "Anpassung an prospektive Zuschauer? - Eine multimodal-interaktionsanalytische Perspektive auf Publikums-Konstruktionen in Theaterproben"
- Paulo Astor Soethe: Deutschsprachiges Laientheater in Brasilien (1919-1968): Archivarbeit und -präsentation als diskursiver Vorgang im heutigen ‚espaço público‘ der Kunstkommunikation
André Barz
Nichtprofessionelle Theaterkritik im
Internet
Nichtprofessionelle Theaterkritik im Internet scheint sich zu
einem bedeutsamen Phänomen zu entwickeln. Für 2012 verzeichnet
das wohl diesbezüglich renommierteste Forum „nachtkritik.de“
2.110 000 Seitenbesuche (vgl. Gut und viel gegoogelt 2012) mit
etwa 7 000 Kommentaren (vgl. Der Debatte sachlichst dienen
2012). Beides galt natürlich nicht nur Rezensionen von
Theaterinszenierungen. Aber auch hinsichtlich letzterer sind im
Einzelnen allein quantitativ umfangreiche Äußerungen zu finden,
wie etwa die 111 Kommentare zur Rezension von Wolfgang Engels
„Othello“-Inszenierung mit dem Untertitel „Venedigs Neger“ 2012
am neuen theater Halle zeigen. (vgl. Schmidt 2012) Im
Vortrag wird der Frage nachgegangen, inwiefern diese, so
scheint es, inzwischen ‚Alltagspraxis‘ der nichtprofessionellen
Theaterkritik des Publikums im Internet einerseits Ausdruck des
in der Theorie vielfach beschriebenen ‚koproduzierenden
Zuschauers‘ (etwa wieder Vaßen 2013) ist und andererseits eine
wie immer geartete Konzeptualisierung des Zuschauers seitens
der Theaterproduzenten, ob explizit offengelegt (etwa Werli,
vgl. Reimers 2013), implizit inszeniert (vgl. etwa Pollesch
2014) oder im Sowohl-als-Auch praktiziert (etwa Rimini
Protokoll, vgl. Marscheider 2009 oder Ostermeier, vgl. Schröder
2007), bestätigt oder infrage stellt. Herauszuarbeiten sind
dabei die Intentionen der Kritiken und deren Gestus ebenso wie
die inhärenten ‚Selbstdefinitionen‘ der Schreibenden.
Literatur:
Marscheider, Jana Henrike (2009): Zur Konzeptualisierung des
Zuschauers im Theater von Rimini Protokoll. Bachelor Arbeit an
der Universität Siegen. Unveröffentlicht.
Pollesch, René (2014): Kill Your Darlings. Stücke. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Reimers, Ann-Kathrin (2013): Der neugierige Zuschauer –
Penelope Wehrlis Theater der kalkulierten Unübersichtlichkeit.
In: Barz, André/ Paule, Gabriela (Hrsg.): Der Zuschauer.
Analysen einer Konstruktion im theaterpädagogischen Kontext.
Berlin: Lit Verlag. S. 165-182.
Schröder, Miriam (2007): Theater und Medien. Strukturelle
Bezüge dargestellt am Beispiel des Theaters Thomas Ostermeiers.
Diplomarbeit an der Universität Siegen. Unveröffentlicht.
Vaßen, Florian (2013): Der koproduzierende Zuschauer –
Kollektive Kreativität und Theater-Praxis. In: Barz, André/
Paule, Gabriela (Hrsg.): Der Zuschauer. Analysen einer
Konstruktion im theaterpädagogischen Kontext. Berlin: Lit
Verlag. S. 125-147.
Internetquellen:
Der Debatte sachlichst dienen. Die meistkommentierten Seiten
auf nachtkritik.de 2012. (2012)
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=7579:die-meistkommentierten-seiten-auf-nachtkritikde-2012&catid=673:jahresrueckblick-2012&Itemid=60;
zuletzt aufgerufen am 16.02.2016
Gut und viel gegoogelt. Die meistgelesenen Texte auf
nachtkritik.de 2012. (2012)
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=7581:die-meistgelesenen-texte-auf-nachtkritikde-2012&catid=673:jahresrueckblick-2012&Itemid=60;
zuletzt aufgerufen am 16.02.2016
Schmidt, Matthias: Red-Bellying contra Black-Facing. (2012)
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6943:othello-venedigs-neger-in-halle-schaut-wolfgang-engel-hinter-den-korrekten-empoerungsreflex&catid=178;
zuletzt aufgerufen am 16.02.2016
Ulla Fix
Erziehung oder Ermunterung? - Die sprachlich-mediale
Konstruktion eines Publikums im Streit um
Theaterkonzeptionen
In den letzten Jahren gab es um die Arbeit des Schauspielhauses
Leipzig (von Hartmann in "Centraltheater" umbenannt) eine
heftige Auseinandersetzung. Der Stil des damals neuen
Intendanten Sebastian Hartmann spaltete die Öffentlichkeit und
zeigte damit, dass es verschiedene Arten von Erwartungen und
damit verschiedene Publikumsgruppen gibt. Hartmann formulierte
einen aus meiner Sicht pädagogischen Anspruch (was er sicher
strikt zurückweisen würde). Er meinte, das Publikum
müsse lernen, mit neuen Auffassungen von
Theater und Inszenierung sowie mit einer Stücke nicht mehr als
Kanon betrachtenden Vorgehensweise zurechtzukommen, und
dürfe nicht an seinen, wie er unterstellte,
bildungsbürgerlichen Ansprüchen kleben bleiben. Ein Zulauf
junger Leute gab ihm recht. Die alten Zuschauer blieben zu
einem beträchtlichen Teil weg.
Nach der Ablösung Hartmanns durch Enrico Lübbe wurde eine
andere Vorstellung von Publikum formuliert. Keine Erziehung,
sondern ein mit allen Möglichkeiten des Theaters bestrittene
Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text in dem Glauben, dass
man damit alle Zuschauergruppen durch Ermunterung
erreichen kann. Der Erfolg der ersten Jahres - das
Theater war voll von alten und jungen Besuchern - scheint im
recht zu geben.
Mir geht es natürlich nicht darum zu entscheiden, wer von
beiden recht hat. Ich will vielmehr aus den Äußerungen der
Intendanten unter Hinzuziehung des öffentlichen Meinungsstreits
(Netz und/oder Zeitung) diskursanalytisch ermitteln,
wie eine bestimmte Vorstellung von Publikum sprachlich
konstruiert wird.
1.
Die eine Seite (alter Intendant: Sebastian Hartmann) geht davon
aus, dass das Publikum noch nicht begriffen habe, was das
Theater kann und will. Er will, um dem abzuhelfen, ein neues
Publikum erziehen (neue Sehgewohnheiten
heranbilden) bzw. ein neues Publikum, dessen Bedürfnisse er zu
kennen glaubt, heranziehen (jugendliche
Zuschauer gewinnen).
Hier wäre es interessant, herauszuarbeiten, wie sich in dem
Diskurs zwischen Theater und Öffentlichkeit ein jeweiliges
Publikumsbild herausgebildet hat. Schwerpunkt sollte sein, wie
der Intendant und seine Mitstreiter, vor allem der
Hausphilosoph des Theaters (Guillaume Paoli) das Publikum
sehen.
2.
Die andere Seite (neuer Intendant: Enrico Lübbe) will das
Leipziger Publikum (traditioneller eingestimmte Zuschauer)
zurückgewinnen, ohne auf das neue, junge Publikum zu
verzichten. Er nimmt sie also, wie sie
sind, will ihre Erwartungen erfüllen und sie
ermuntern, auf Neuerungen einzugehen.
Hier ist es ebenso interessant zu sehen, wie sich die
Öffentlichkeit in den Medien dazu verhält, vor allem aber, wie
der neue Intendant und sein Chefdramaturg das Publikum sehen
und auf welche Weise das Publikum angesprochen wird.
Matt Hills
From Media Fandom to Art Fandom? Appreciating an
Exnominated Discourse
This paper will explore how different kinds of fandom can be
theorized by learning from fan studies’ emphasis on media
fandom. The concept of “implicit fandom” will be used, drawing
on notions of “implicit religion” which evade standard
definitions of the term (Bailey 1998). I will argue that
“implicit fandom” occurs where ‘fandom’ can be analytically
used in relation to high-cultural forms, yet is not usually
discursively drawn on by participants (Bourdieu 1986). In terms
of contemporary art, the discourse of fandom has begun to
circulate, but as a kind of provocation: for example, Grayson
Perry refers to the Tate Modern as a “cult entertainment
megastore” (2014: 88), comparing art “fans” to fan-shoppers at
Forbidden Planet.
If fandom has remained highly implicit (and devalued) in
cultures of modern art, we should nonetheless be careful of
deploying high culture in ways that seek to legitimate the
study of fandom. Politicizing approaches to fandom have often
formed an authenticating bid for the subject’s ‘inherent’ value
– whether this involves characterizing fans as resistant
“poachers” or subversive “activists”. Attempting to legitimate
fandom has been part of fan/audience studies’ history, but it
invariably makes use of disciplinary discourses of cultural
‘significance’ that other and exclude as much as they dignify.
Indeed, attacks on fan studies by Marxist writers draw on a
similar discursive matrix (Fuchs 2014). Thus, while
contemporary art has an unstable relationship to discourses of
fandom (which are often exnominated), fan studies remains
uneasily legitimated
About the presenter: Matt Hills is Professor
of Film & TV Studies at Aberystwyth University. He is the
author of Fan Cultures (2002) as well as five other
monographs, the most recent of which is Doctor Who: The
Unfolding Event (2015). Matt has published more than a
hundred journal articles/book chapters on fandom and cult
media. He is currently completing Sherlock: Detecting
Quality TV for I.B. Tauris (2016), and is a co-series
editor on the Transmedia book series for Amsterdam
University Press.
Werner Holly
Sprechendes Publikum?
Wie kann man sich dem Begriff des Publikums aus einer
linguistischen Perspektive nähern? Zunächst versuche ich
Elemente eines semantischen Frames ‚Publikum‘ zu
identifizieren. Dann wird im Hinblick auf die Eigenschaft der
„(Teil-)Dialogizität“ ein kurzer Rückblick auf unsere
Fernsehrezeptionsforschung unternommen, die
Anschlusskommunikation zum Gegenstand hatte. Im zentralen Teil
wird der Frage nachgegangen, wie das Fernsehen in bestimmten
Formaten wie z.B. Polit-Talkshows die fehlende Interaktivität
mit dem Zuschauer durch ein Studiopublikum zu kompensieren
versucht. Dazu verwende ich einige Beispiele von
Maybrit-Illner-Sendungen aus den Jahren 2007, 2011 und 2016, wo
das Publikum nicht wirklich „spricht“, sondern akustisch und
optisch als Brücke zum Zuschauer inszeniert wird, mit allen
Risiken der Verzerrung und Polarisierung, so dass seine
Funktion als Rezeptionsmodell typische weitere Eigenschaften
des Frames-Publikum zum Vorschein bringt, die abschließend
thematisiert werden: Reflexivität und diskursive
Komplexitätsreduktionen.
Raphaela Knipp
„Also nicht den üblichen Zugang, Buch zu und weg“ –
Literatur als ortsbezogene Praxis
Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive stellt das Publikum
im Sinne von Alltags¬lesern und Leserinnen eine weitestgehend
unbeachtete Größe dar. Fragen der Literatur¬rezeption und
-an-eignung werden meist unter Rückgriff auf bestimmte Theorien
und Modelle behandelt. Der Vortrag schlägt hingegen einen
praxeologischen Ansatz vor, dessen Ziel es ist,
literatur-ästhetische Aspekte mit der Frage nach spezifischen
Leser¬praktiken zu verknüpfen. Konkret wird dies am Beispiel
des Literaturtourismus darge¬stellt, wobei es sich um eine
besondere Form der ortsbezogenen Rezeption literarischer Texte
handelt: Leser suchen Handlungsschauplätze der Literatur im
Realraum auf. Anhand von Interview- und Beobachtungsdaten, die
im Rahmen der Teilnahme an literaturtou¬ris¬tischen Angeboten
gewonnen wurden, soll der Frage nach-gegangen werden, welche
Praktiken der Aneignung von Literatur dabei stattfinden und wie
sich diese an die literarischen Ver¬fahren der Texte
zurückbinden lassen.
Hubert Knoblauch
Publikumsinteraktion und Publikumsemotion
Der Beitrag soll sich mit der Frage der Publikumsemotion
beschäftigen. Genauer geht es hier um Formen des kommunikativen
Handelns von Präsenzpublika in verschiedenen Settings, also der
körperlichen sinnhaften Aktivitäten des Publikums als einer
Aggregation von Handelnden. Es handelt sich dabei um einen
explorativen Beitrag, der „Publikum“ als Leistung des daran
beteiligten Handelnden ansieht. Ausgehend von einem kurzen
Überblick des Forschungsstandes soll an ausgewählten
empirischen Beispielen die These verfolgt werden, dass und wie
die Publikumsemotion als eine Koproduktion der Beteiligten
angesehen werden kann. In einem weiteren Schritt soll auf ein
besonderes Phänomen der Publikumsinteraktion eingegangen
werden, nämlich die Publikumsresonanz. Sie kann als interaktiv
erzeugte Form der Efferveszenz verstanden werden, in der
subjektive, sinnliche Wahrnehmung, kommunikatives Handeln so
koordiniert werden, dass „Publikum“ als Handlungsträger
erscheint.
Der Beitrag beruht auf explorativen videographischen
Untersuchungen, deren Schwerpunkt im institutionellen Bereich
von Sport und Religion liegen. Um das Phänomen des „Publikums“
allgemeiner zu adressieren, werden auch andere Kontexte
hinzugezogen.
Marcus Müller / Jörn Stegmeier
Twittern als #Alltagspraxis des
Kunstpublikums
In unserem Vortrag wird es um Praktiken der Positionierung
relativ zur Bildenden Kunst (Hausendorf 2012) auf Twitter
gehen. Twittern ist eine Alltagspraxis, insofern es von
denjenigen, die es tun, prinzipiell immer und überall ausgeübt
werden kann. Deshalb ist Twitter ein gutes Maß, um die lokale
Dissoziierung des Kunstpublikums unserer Zeit abschätzen zu
können. Getwittert wird direkt aus dem Museum, durch
Leser*innen von Ausstellungskritiken oder auch assoziativ aus
dem Alltag heraus. Die Twitterer sind allerdings nur zur Hälfte
(rezipierendes) Kunstpublikum, gleichzeitig sind Sie ja aktiv
an der medialen Transkription (Jäger 2002) von Kunst beteiligt
und nehmen dabei soziale Positionen ein (z.B. als EXPERTEN,
WERBER, VERMITTLER, KRITIKER, FANS). Unsere Analysen beruhen
auf einem Korpus von deutschen und englischen Tweets zu
Künstlern im Zeitfenster vom 01.12.2015 bis zum 31.01.2016,
denen dann gerade große Ausstellungen gewidmet sind:
#Botticelli (Berlin), #Schiele (Zürich), #Gursky (Baden Baden),
#Calder (London), #Kandinsky (New York), # Balthus (Rom).
Genannte Literatur Hausendorf, Heiko (2012): Soziale
Positionierungen im Kunstbetrieb. Linguistische Aspekte einer
Soziologie der Kunstkommunikation. In: Müller, Marcus/Kluwe,
Sandra (Hgg.): Identitätsentwürfe in der Kunstkommunikation.
Berlin, Boston, 93–123.
Jäger, Ludwig (2002): „Transkriptivität. Zur medialen Logik der
kulturellen Semantik“. In: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hgg.):
Transkribieren. Medien/Lektüren. München: Fink, 19-41.
Karola Pitsch
Ein Roboter als Museumsführer? - Besucherpraktiken
des Umgangs mit einem neuen medialen Artefakt in einer
Museumsausstellung
In Museumsführungen, in denen ein Mitarbeiter Informationen
über Kunstwerke, historische Gegenstände und sonstige Exponate
anbietet, stellen die Besucher eine spezifische Form des
Publikums dar. Zum einen sind sie Rezipienten der inhaltlichen
Erläuterungen, zum anderen konzeptuell fassbar als Ko-Akteure,
die aktiv - durch verbale wie schweigend-verkörperte Praktiken
des Displays von Aufmerksamkeit, Raumkonstitution etc. - an der
Gestaltung dieser Erläuterungen und der Aktivität
'Museumsführung' mitwirken und diese ko-konstruieren
(Hausendorf 2011, Pitsch 2012, de Stefani & Mondada 2014,
Dausendschön-Gay/Gülich/Krafft 2015). Soll nun ein technisches
System, wie ein humanoider Roboter, die Aufgabe des
Museumsführers übernehmen und mit Mitteln natürlichsprachlicher
Kommunikation steuerbar sein, liegt eine derartige interaktive
Koordinierung in weiter Ferne. Nichtsdestotrotz zielt ein Teil
der Forschung in diesem Bereich darauf ab, technische Systeme
mit basalen Möglichkeiten sowohl der Reaktivität auf
beobachtetes Besucherverhalten als auch der Initiierung
spezifischer Besucherhandlungen auszustatten (Yamazaki et al.
2008, 2013, Pitsch et al. 2013, 2015a). Dabei besteht eine
besondere Herausforderung darin, mit der prinzipiellen
Nicht-Vorhersehbarkeit/Kontingenz von menschlichem
Interaktionsverhalten und mit der Heterogenität der Besucher
umzugehen, die individuell oder in kleinen Gruppen während
ihres Rundgangs im Museum auf den Roboter treffen. Daher ist es
zentral, die interaktiven Praktiken eines solchen Publikums,
ihre Sinnstiftungsprozesse im Umgang mit einem neuen
technisch-medialen Artefakt und die dabei entstehenden
Dynamiken im Interaktionssystem 'Mensch-Roboter' zu verstehen.
Vor diesem Hintergrund werden Videoaufnahmen einer Studie zur
Mensch-Roboter-Interaktion untersucht, in der ein
spezifisch-heterogener Publikumstyp in einer realen
Museumsausstellung zum ersten Mal auf einen robotischen
Museumsführer trifft: aus Kindern und Erwachsenen bestehende
Kleingruppen (typischerweise: Familien). Es wird der Frage
nachgegangen, wie diese Besucher mit den - verbalsprachlich und
körperlich verfassten - kommunikativen Angeboten des Roboters
in der Situation des Erstkontakts umgehen. Wie behandeln Kinder
vs. Erwachsene die vom Roboter aufgebauten strukturellen
Relevanzen? Welche Dynamiken entstehen in einer solchen
heterogenen Gruppe durch den Umgang mit etwaigen Diskrepanzen?
- Dieses wird beispielhaft an Momenten herausgearbeitet, an
denen der Roboter (a) Fragen an die Besucher stellt und (b) auf
Exponate verweist. Es lässt sich beobachten, dass - nachdem in
der Eröffnung Zugänglichkeit im Sinne 'natürlichsprachlicher
Kommunikation' etabliert wird (Pitsch 2015b) - Kinder nicht nur
entsprechend alltagsweltlicher Handlungslogiken agieren,
sondern auch institutionell-schulisch geprägte Verhaltensweisen
(z.B. aufzeigen) verwenden oder ihre Antworten u.U. zunächst
leise an den Erwachsenen (anstatt an den Roboter) adressieren.
Demgegenüber agieren die Erwachsenen häufig räumlich wie
sequenzstrukturell aus der "zweiten Reihe" und bieten auf der
Basis größerer Beobachtungsmöglichkeiten (vermeintliche)
Unterstützung im 'richtigen' Umgang mit dem technischen
Artefakt an. Insgesamt verdoppelt sich so strukturell die
besucherseitige Bearbeitung der 'first turns' des Roboters, so
dass innerhalb des Publikums spezifische Dynamiken in solchen
Multi-Party-Situationen entstehen. Darüber hinaus wird die
Situation von den Besuchern auch in ihrer Rolle als "Familie"
bearbeitet, was sich z.B. darin äußert, dass während der
laufenden Interaktion Erinnerungsfotos 'Kinder mit Roboter'
geschossen werden, was wiederum zu spezifischen Dynamiken
innerhalb der Gruppe führt. - Derartige Beobachtungen sind zum
einen relevant für die Weiterentwicklung des Roboters und
erlauben zum anderen das 'Publikum' in seiner Heterogenität und
interaktiven Dynamik zu fassen, in der sich verschiedene Grade
der Alltagssozialisierung als Basis für den Umgang mit einem
neuen technisch-medialen Artefakt abbilden.
Axel Schmidt
"Anpassung an prospektive Zuschauer? - Eine
multimodal-interaktionsanalytische Perspektive auf
Publikums-Konstruktionen in Theaterproben"
„No audience, no performance“ postuliert Erving Goffman (1977)
in seiner Rahmenanalyse. Soll heißen: Die Anwesenheit eines
Publikums ist Voraussetzung, um beobachtbare Vorgänge als
Aufführungen zu begreifen. Prototypisch hierfür seien
– so Goffman – Theateraufführungen. Im Gegensatz zu anderen
sozialen Vorgängen (vom Alltagshandeln bis zu Zeremonien), die
gleichfalls in Teilen beobachtbar bzw. auf Beobachtung bezogen
sind (vgl. Goffman 1983), endet die soziale Situation
‚Theateraufführung‘ mit dem Verschwinden von Beobachtern. Grund
hierfür ist das Fehlen eines über die Darstellung
hinausgehenden Zwecks. Goffman nennt sie deshalb „reine
Aufführungen“.
Zugleich erweist sich der Prozess der Kreation und
Herstellung von Theater aber als
öffentlichkeitsabgeschirmter (vor allem im Anfangsstadium)
sowie tentativer, experimenteller und intimer Vorgang, der
aufgrund seiner besonderen Institutionalisiertheit als
‚Probe‘ (vgl. Matzke 2012) gerade nicht
publikumsbezogen sein kann und soll. Dennoch entsteht im
Schutzraum ‚Probe‘ die für Publika gestaltete Aufführung.
Diese Spannung aus kreativem Schonraum und immanenter
Bezogenheit der Darstellung auf seine (spätere) Beobachtung ist
konsequenzenreich für den Produktionsprozess:
Einerseits ist Publikumswirkung zentral, andererseits stört
eine (zu frühe) Orientierung an möglichen Publikums-Effekten
den kreativen Prozess. Diese Vermittlungsleistung ist ein
zentraler Aspekt der Regiearbeit (Leach 2013).
In meinem Beitrag gehe ich der Frage nach, ob und wie
Theatermachende das Publikum bzw. dessen Bedürfnisse,
Wünsche, Reaktionen etc. im Probenprozess antizipieren
und was das für die laufende Probenarbeit bedeutet. Bezugspunkt
ist damit nicht die kommunikative Aneignung durch ein Publikum,
sondern die Reflexion des Publikums im
Herstellungsprozess auf Produzentenseite. Der Blick auf
das ‚andere Ende der Medienkommunikation‘ ergänzt die Frage
nach der kommunikativen "Selbst-Konstruktion" des Publikums
durch die Frage nach "Fremd-Konstruktionen" des Publikums durch
die Produzenten. Fokus sind allerdings weder die
Selbstdeutungen von Theaterschaffenden (wie sie etwa in
Interviews greifbar werden) noch konzeptionelle Vorarbeiten
(grundsätzliche Ausrichtung und Anlage des Stücks, mögliche
Publika, die angesprochen werden sollen, Zielgruppenbezug,
Relevanz und ‚Aussage‘ des Stücks etc.), sondern faktische
Produktionspraktiken im Prozess der Probe selbst.
Empirische Grundlage zur Rekonstruktion von
produktiven Praktiken im Probenprozess ist ein Korpus von über
30 Stunden Videoaufnahmen von Theaterproben im Amateur- und
professionellen Bereich. An ausgewählten Ausschnitten soll im
Beitrag gezeigt werden, welche unterschiedlichen impliziten und
expliziten Formen des Publikumsbezug existieren, wie
diese interaktiv realisiert werden und welche Rückschlüsse das
auf die Weisen der Publikumskonstruktion im Kontext
von Proben zulässt.
Literatur
Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die
Organisation von Alltagserfahrung. Frankfurt/M: Suhrkamp.
Goffman, Erving (1983): The interaction order. In: American
Sociological Review, 48, 1, S. 1-17.
Leach, Robert (2013): Theatre studies: the basics. New York:
Routledge, Taylor Francis Group.
Matzke, Annemarie (2012): Arbeit am Theater: Eine
Diskursgeschichte der Probe. Berlin: De Gruyter.
Paulo Astor Soethe
Deutschsprachiges Laientheater in Brasilien
(1919-1968): Archivarbeit und -präsentation als diskursiver
Vorgang im heutigen ‚espaço público‘ der
Kunstkommunikation
Zwischen 1824 und 1952 kamen rund 350 Tausend deutschsprachige
Immigranten nach Brasilien. Man schätzt, dass heute circa 6
Millionen Brasilianer teilweise deutschstämmig sind. Durch die
Entstehung von mittelgroßen Städten in Siedlungsgebieten vor
allem in Südbrasilien und die Binnenmigration von Deutschen
oder Deutschstämmigen in schon bestehende Großstädte galt die
deutsche Sprache dort als wichtige Komponente im urbanen
Kulturleben. Die Integration der Sprache und Gewohnheiten
dieser Bürger durch brasilianische Institutionen ermöglichte
bis 1937 die Gründung und Wirkung von mehreren Theatervereinen.
Deutsche Sprache und Kultur genossen ein hohes Ansehen und ihre
Präsenz prägte damals das alltägliche Leben der Städte und die
Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft. Das sind bis
heute kaum erforschte Elemente der brasilianischen und der
deutschsprachigen Theatergeschichte. Die Erfassung, Auswertung
und digitale Präsentation von Dokumenten aus jener Zeit
beschäftigen junge Wissenschaftler vor Ort, können historische,
kultur- und bildungspolitische Relevanz erlangen. Mein Beitrag
beabsichtigt zu zeigen, wie die damaligen Praktiken des
Publikums zum Thema des (auch virtuellen) „espaço público“ im
heutigen Brasilien werden können und somit zu Transformationen
im öffentlichen Raum von bestimmten Gemeinden und Regionen im
Land beitragen können.