„Menschen im Mittelpunkt“
Die Corona-Pandemie verändert unsere Innenstädte und unsere Arbeitswelt. Diese Veränderungen sollten wir als Chancen begreifen, sagt Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker, Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen. Wie BürgerInnen auch auf dem Land und auch der Klimaschutz davon profitieren können, beantwortet sie im Interview.
         Was macht die         Pandemie mit unseren Innenstädten?     
               Univ.-Prof.         Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker: Im Moment         verursacht die Pandemie die größten Ruinen unserer Zeit.         Bürogebäude in Metropolen stehen leer während viele         ArbeitnehmerInnen im Homeoffice arbeiten. Der Einzelhandel         stirbt während der Onlinehandel boomt. Nach der Pandemie         wird nicht alles wieder so sein wie vorher und das sollten         wir auch gar nicht anstreben. Denn wir sollten die Pandemie         und den Wandel als Chance begreifen. Die Frage, die wir uns         stellen müssen, ist: Wie geht es nach der Pandemie weiter?         Was lernen wir daraus und was können wir gemeinsam besser         machen?      
               Wie schaffen wir         es, den Leerstand als Chance zu nutzen? Sie haben kürzlich         einen Kommentar in der F.A.Z. veröffentlicht, in dem es um         diese Frage geht.     
               Messari-Becker: Ein         sozial-ökologischer Stadtumbau steht ohnehin an. Diesen         sollten wir nutzen, indem wir den Leerstand als Leergut         begreifen und eine neue Baukultur etablieren. Bauen mit dem         Bestand dürfte räumlich, architektonisch und         ingenieurtechnisch eine der spannendsten Aufgaben der         jüngeren Baugeschichte werden. So habe ich es auch         in meinem F.A.Z.-Kommentar formuliert. Viele Menschen haben mich         auf meinen Kommentar angesprochen. Ihnen waren die Aspekte ländlicher Raum oder soziale Mischung in den Wohnvierteln wichtig.
         Wie kann diese neue         Baukultur konkret aussehen und wie wollen Sie         sicherstellen, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger – auch         im ländlichen Raum – mitnehmen?     
               Messari-Becker: Wir         müssen Bau-, Raum und Stadtentwicklung mit der         Lebensrealität der Menschen zusammenbringen. Das geschieht         bisher zu selten. Für Städte gilt zum Beispiel: Isolierte         monofunktionale Gebäude, wie Shopping Malls oder reine         Büro-Komplexe, sind nicht mehr zeitgemäß. Hier geht es         darum, neue Nutzungsmöglichkeiten auszuloten und         umzusetzen. Warum funktionieren wir solche Gebäude nicht         teilweise in Wohnraum um? Der Bau-, Raum und         Stadtentwicklungspolitik wurde in den letzten Jahren keine         große politische Bedeutung beigemessen. Das muss anders         werden. Generell brauchen wir kleinteiligere kompaktere         Strukturen, Orte der kurzen Wege, klimaresiliente         Infrastruktur, mehr Urbanität, bezahlbares Wohnen egal ob         auf dem Land oder in der Stadt. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen         und Freizeit sollten wenn möglich eng beieinander         liegen.      
               Wie kann man sich         das in Dörfern vorstellen?     
               Messari-Becker: Der         ländliche Raum müsste mittel- und langfristig so         umgestaltet werden, dass es Möglichkeiten zum Einkaufen in         der Nähe und klimafreundliche Mobilitätsangebote gibt.         Durch Orte der kurzen Wege fallen automatisch einige Gründe         zum Pendeln weg. Das verringert die Flucht vom Land und es         stärkt auch die lokale Wirtschaft. Und wir nehmen so den         Druck von der Stadt. Dazu kommt: Die Arbeit von vielen         Menschen hat sich während der Pandemie ins Digitale         verlagert. Nicht mehr alle Arbeitsplätze befinden sich in         der Stadt. Das bisher so selbstverständliche Pendeln mit         dem eigenen Auto ist teilweise nicht mehr notwendig.         Homeoffice kann künftig teilweise beibehalten werden. Der         ländliche Raum ist damit nicht mehr ausschließlich ein         grüner oder günstiger Ort zum Wohnen, sondern auch zum         Arbeiten, insbesondere wenn wir dafür sorgen, dass die         „Baustelle Digitalisierung“ insgesamt angegangen wird.         Durch politisches Handeln und Investitionen sollten wir         daran arbeiten, die Kluft zwischen Stadt und Land zu         mindern, um für alle Menschen Perspektiven zu bieten. Stadt         und Land sollten wieder Partner sein.     
               Würden sich Orte         der kurzen Wege auch positiv auf den Klimaschutz         auswirken?     
               Messari-Becker: Ja, denn wir geben den Menschen dadurch die Möglichkeit, sich klimafreundlich zu verhalten. Es muss darum gehen, dass sich Menschen von A nach B sicher, schnell, ökologisch und bezahlbar bewegen können. Viele Menschen möchten etwas für den Klimaschutz tun, zum Beispiel im Bereich Mobilität oder Haussanierung. Aber die Hürden, die Bürokratie und die Kosten sind für viele zu hoch. Das höre ich immer wieder und diese Rückmeldungen habe ich auch auf meinen Kommentar in der F.A.Z. zuhauf bekommen. Sind wir ehrlich: Für viele auf dem Land kommen Bus und Bahn aufgrund der schlechten Anbindung nicht infrage. Das Auto immer unattraktiver zu machen, hilft diesen Menschen nicht. Ausbau des ÖPNV, digitalisiertes Verkehrsmanagement, eine funktionierende Anbindung und auch kurze Wege schon. Wir sollten da ansetzen, wo wir die Menschen in ihrer Realität ansprechen. Auch und gerade im ländlichen Raum.
               Sie sprechen das         Thema Sanierung an. Wie sieht bei diesem Thema die Realität         der Menschen aus?     
               Messari-Becker: Wenn         mir Rentner erzählen, dass sie ihr Haus gern sanieren         möchten, das Förderrecht aber vorsieht, dass meist  Maßnahmenpakete gefördert werden – dann sind das exorbitant         hohe Summen, die viele nicht so einfach stemmen können. Ich         plädiere dafür, dass es ermöglicht wird, dass jeder in         seinem eigenen Tempo sanieren können soll. Einzelne         Schritte nacheinander für z.B. Fenstererneuerung,         Fassadendämmung und Heizungsaustausch wären viel         realitätsnäher als ein komplettes, unflexibles Maßnahmenpaket. Eine         weitere Möglichkeit ist, einen räumlichen Mehrwert         baurechtlich zuzulassen, z.B. über Aufstockungen, Anbauten         etc. Ich bin überzeugt, dass wir viel mehr         Menschen in die Lage versetzen können, ihre Häuser zu         sanieren, als bisher. Dafür müsste aber das Bau- und         Förderrecht reformiert werden.      
      Die Bundesregierung möchte beschließen, dass die CO2-Abgaben auf Heizung zu 50% von Mietern und zu 50% von Vermietern getragen werden. Wie bewerten Sie das?
               Messari-Becker: Was         gerecht klingt, wird uns länger beschäftigen. Es         wird nicht einfacher und es werden Fragen aufkommen:         Verbrauchswerte, Sanierungspflichten der Vermieter, das         Nutzerverhalten der Mieter usw. Ich bin gespannt, ob das         uns den Zielen näherbringt. Jedenfalls sollte man das         flankieren. Es darf nicht dazu führen, dass die Miete         weiter erhöht wird oder Vermieter nicht mehr vermieten         wollen.     
               Wie können wir         gewährleisten, dass auch in Quartieren mit wenig         finanziellen Mitteln Häuser saniert werden?     
               Messari-Becker: Häufig         sind es Menschen in sozial schwächeren Gegenden, die in         schlechten Wohnverhältnissen leben und dabei aufgrund des         energetischen Zustands der Gebäude hohe Heizkosten haben.         Ich plädiere dafür, dass sich alle Player zusammentun: Die         Politik, die Industrie und die Wohnungsbauwirtschaft. Mit         einem Fonds für warmmietenneutrale Sanierungen wäre vielen         Menschen geholfen. Denn so könnten auch Häuser in sozial         schwächeren Quartieren saniert werden, die Unternehmen         würden mit den Sanierungen legitim ihr Geld verdienen, und         gleichzeitig könnte man vermeiden, dass danach die         Mietpreise so sehr steigen, dass sich die bisherigen Mieter         die Wohnungen nicht mehr leisten können. Das nenne ich         soziale Innovation in einer sozial-ökologischen         Marktwirtschaft. Wir wollen Klimaschutz voranbringen, aber         mit den Menschen im Mittelpunkt, mit sozialem Auge und         gemeinsam mit der Wirtschaft. Wir brauchen eine Bau- und         Stadtentwicklungspolitik, die die Menschen in den         Mittelpunkt stellt. Nur so motivieren wir alle, sich         freiwillig für den Klimaschutz einzusetzen, und ermöglichen         es ihnen überhaupt erst, sich daran zu beteiligen.     
               Ob es Klimaschutz,         bezahlbares Wohnen, Energie- und Mobilitätswende, soziale         Mischung etc., die Herausforderungen und die Chancen sind         im Bausektor und in der Stadtentwicklung groß. All das kann         nur ein eigenständiges Bauministerium stemmen.     
               Hintergrund     
      Univ.-Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker (48) ist Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen. Sie ist Mitglied im Club of Rome International, im Konvent der Bundesstiftung Baukultur und war bis 2020 Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) der Bundesregierung.
         Kontakt     
               Univ.-Prof. Dr.-Ing. Lamia         Messari-Becker, Universität Siegen     
               Department Architektur,         Lehrgebiet Gebäudetechnologie und Bauphysik     
            
