Geschichte in Wort und Bild in deutsch- und französischsprachigen illustrierten Zeitschriften des 19. Jahrhunderts
Am 17. Juli 1841 erschien in der deutschsprachigen Zeitschrift "Das Pfennig-Magazin für Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse" auf der Titelseite, von einem gerahmten Portrait des Königs begleitet, ein Artikel zu Ludwig XIV. von Frankreich. Es handelte sich um den ersten Beitrag einer dreiteiligen Serie zu dem "durch sein Zeitalter mit Glanz überschüttete[n] König, der gegen 72 Jahre über eins der größten und schönsten Länder Europas" geherrscht hatte. Von dem "sonderbaren Zufall", der sich für die Zeugung des zukünftigen Königs verantwortlich zeigte, über die Ausgestaltung der absolutistischen Herrschaftsform und den ihm zugeschriebenen Ausspruch "L’État, c’est moi" bis hin zu den "letzten Strahlen seiner untergehenden Sonne" resümiert die Beitragsreihe in anschaulicher und unterhaltender Weise das Leben einer der bekanntesten Figuren der französischen und europäischen Geschichte und Geschichtskultur des westlichen Nachbarn.
Ebenfalls auf der Titelseite und als vierter Teil einer sich über mehrere Ausgaben erstreckenden Serie zu "Frédéric II, roi de Prusse" wurde in der französischen Wochenschrift "La Semaine des Familles" vom 26. Juli 1873 über das persönliche Verhältnis zwischen dem preußischen Monarchen und dem französischen Philosophen und Schriftsteller Voltaire berichtet – von der auf gegenseitiger Zuneigung und Anerkennung basierenden Beziehung bis zum Bruch zwischen den beiden illustren Gestalten der europäischen Geschichte. Begleitet wurde der Text von einer aufwändig gestalteten Illustration, die einem Holzstich Wilhelm Camphausens nachempfunden war und den Dichter-Philosophen zeigt, wie er für den nachsinnenden, fast schon entrückt wirkenden preußischen König nebst Hund im Park von Sanssouci in theatralischer Pose einen literarischen Text rezitiert.
Beide Beispiele verweisen darauf, dass Geschichtsdarstellungen sowohl in französisch- als auch deutschsprachigen Zeitschriften einen hohen Stellenwert besaßen und sich beim Publikum großer Beliebtheit erfreuten. Nicht ohne Grund wurden die erwähnten Geschichtsbeiträge auf die Titelseite gesetzt und in mehrteiligen Serien publiziert. Die Zeitschriftenmacher hatten die Werbewirksamkeit und Anziehungskraft geschichtlicher Darstellungen auf ein Publikum erkannt, das angesichts eines zunehmend beschleunigten gesellschaftlichen und technischen Wandels nach Orientierung in einer komplexer werdenden Welt, nach Sinnbildungs- und Identifikationsangeboten verlangte und diese unter anderem im Rückgriff auf die Historie zu finden hoffte.
Zudem handelt es sich um zwei der vielen Beispiele dafür, dass die Geschichte des Nachbarlandes einen festen Bestandteil der Vermittlung historischer Inhalte sowohl in deutschen als auch französischen Zeitschriften bildete. Beiderseits des Rheins wurde die Geschichte des benachbarten Landes wahrgenommen und über Begebenheiten und Personen berichtet, die für das eigene Publikum als relevant erachtet wurden. Häufig wurde die Geschichte des jeweils 'Anderen' zur 'eigenen' Geschichte in Beziehung gesetzt, und dies keineswegs ausschließlich in abgrenzender Weise. Beide Zeitschriftenlandschaften passten nicht selten geschichtskulturelle Konjunkturen des Nachbarlandes an den eigenen Rezeptionskontext. Solche Aneignungen, zum Beispiel in Verbindung mit der Übernahme einer zuvor in einer fremdsprachigen Zeitschrift erschienenen Illustration, werfen Fragen nach Mustern, Perspektivverschiebungen oder Reinterpretationen der historischen Inhalte im Transferprozess auf , die unter anderem Gegenstand des im Folgenden kurz beschriebenen Dissertationsprojekts sind.
Im Kontext der Entstehung und Entwicklung der modernen Massenpresse während des "langen 19. Jahrhunderts" entstand sowohl in Frankreich als auch Deutschland eine Vielzahl von populären illustrierten Zeitschriften. Mit einer Kombination aus belehrenden sowie populärwissenschaftlichen und unterhaltenden Inhalten wandten sie sich an ein – unter anderem in Folge zunehmender Alphabetisierung und Bildung – stetig wachsendes Publikum. Geschichtsrepräsentationen gehörten neben Fortsetzungsromanen, Novellen und Gedichten sowie populärwissenschaftlichen Darstellungen, beispielsweise zu technischen, naturwissenschaftlichen oder geographischen Themen, zum festen Bestandteil dieser Periodika. Häufig wurden zudem in Orts- und Reisebeschreibungen oder Beiträgen, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen, kulturellen oder technischen Phänomenen beschäftigten, historische Bezüge hergestellt und Einordnungen in den jeweiligen historischen Kontext vorgenommen.
Da diese populären illustrierten Zeitschriften in breiten Teilen der Bevölkerung rezipiert wurden, besaßen sie eine hohe Bedeutung für die Vermittlung historischen Wissens und bestimmter Geschichtsdeutungen und -bilder sowohl im französisch- als auch deutschsprachigen Raum. Insbesondere die seit den 1850er Jahren entstehenden Familienblätter richteten sich nicht nur an (bildungs-)bürgerliche und besitzende, sondern auch an kleinbürgerliche sowie unterbürgerliche Schichten, an beide Geschlechter und alle Generationen. Somit bilden illustrierte Zeitschriften eine überaus wichtige Quelle für populäre Deutungen von Geschichte, für die populäre Geschichtskultur des "langen 19. Jahrhunderts" in Frankreich und Deutschland. Als Zeugnisse der Geschichtskultur erlauben sie Aussagen über zeitgenössische Geschichtsbilder, Mentalitäten sowie gesellschaftliche bzw. gruppenspezifische oder nationale durch den Verweis auf Geschichte konstruierte Selbst- und Fremdbilder. Sie spielten eine bedeutsame Rolle bei Prozessen der Sinnbildung und Identitätskonstruktion, insbesondere angesichts umfassender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse sowie im Zusammenhang der Herausbildung nationaler Identitätsvorstellungen während des 19. Jahrhunderts.
Innerhalb des Teilprojekts wird vor diesem Hintergrund in einer vergleichs- und transfer- bzw. verflechtungsgeschichtlichen Perspektive die Vermittlung von Geschichte in französisch- und deutschsprachigen illustrierten Zeitschriften untersucht.
Das Teilprojekt will Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Untersuchungsräume hinsichtlich der Vermittlung von Geschichte herausarbeiten und wechselseitige Austausch- und Wahrnehmungsprozesse sowie Transfers und Verflechtungen in Bezug auf Entstehungszusammenhänge, Verleger, Herausgeber, Autoren, Illustratoren, Inhalte und Präsentationsformen in den Fokus rücken: Welche grenzüberschreitenden Phänomene der Geschichtsvermittlung lassen sich identifizieren? Welche Inhalte wurden transnational verhandelt? Wer waren die Träger von Transfers und was waren ihre Beweggründe? Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf Adaptionen, Umdeutungen und Abgrenzungen, die bei Nachahmungen, bei gleichen Inhalten und beim Aufgreifen geschichtskultureller Konjunkturen des Nachbarlandes auftraten. Die im Kontext der wechselseitigen Austausch- und Wahrnehmungsprozesse vorgenommenen Modifikationen und Reinterpretationen konnten wiederum auf die Geschichtsdarstellungen des Exporteurs zurückwirken.
Von besonderem Interesse ist generell die Frage, ob die "Anderen" in kollektiven Erinnerungen bzw. Gründungsvorstellungen vorkommen, in welchen geschichtlichen Zusammenhängen die einander gegenübergestellten historischen Vorstellungen entstanden sind, wie sie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts verändert und gegebenenfalls aufeinander reagiert haben.
Bearbeiter: Klaus Herborn