Gruß vom Kerkermeister
Wo früher Gefangene in ihren Zellen im Unteren Schloss saßen, lernen und lesen heute Studierende. Ein ehemaliger JVA-Mitarbeiter und die Leiterin der Teilbibliothek treffen sich, um die Vergangenheit des Gebäudes zum Leben zu erwecken.
15 Jahre lang war die Justizvollzugsanstalt im Unteren Schloss in Siegen sein zweites Zuhause. Als Krankenpfleger und Justizvollzugsbeamter kannte Rüdiger Zimmermann alle Zellen in- und auswendig. Wenn Zimmermann heute ins Untere Schloss kommt, sind die eisernen, verriegelten Tore und Sicherheitskontrollen für Besucher verschwunden. Heute geht er einfach durch die automatische Glastür ins Foyer der Uni-Teilbibliothek und wird von MitarbeiterInnen gegrüßt. Die kennen ihn, weil er oft vorbeikommt.
An einem kalten Novembertag trifft er sich mit Marion Stahl-Scholz, Leiterin der Teilbibliothek der Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftsrecht). Die beiden sitzen im Besprechungsraum. Im Hintergrund erinnert eine grüne Gefängnistür mit Riegel und Spion an die JVA-Vergangenheit. Der Besprechungsraum war früher eine Viererzelle. „Die Erzählungen erwecken für uns die Vergangenheit zum Leben und machen uns erst richtig bewusst, was für einen besonderen Arbeitsplatz wir hier haben“, sagt Stahl-Scholz.
Sie und ihre KollegInnen haben im Erdgeschoss eine verschlossene Tür entdeckt, hinter der eine Treppe in einen dunklen, kalten Steinkeller führt. „Wir wissen, dass wir dort nicht runtergehen dürfen, aber wir haben keine Ahnung, was dort früher mal war“, sagt sie zu Zimmermann. „Im Kollegenkreis haben wir schon spekuliert, ob da die Gefangenen rein mussten, die sich schlecht benommen haben.“ Zimmermann gibt Entwarnung: „Das war nur der Kartoffelkeller. Kartoffeln müssen doch dunkel und kühl gelagert werden.“
„Ich habe kaum etwas wiedererkannt“
Gleich am Tag der Eröffnung am 1. August 2016 schaute der gebürtige Siegener Rüdiger Zimmermann zum ersten Mal in dem Gebäude vorbei, das lange sein Arbeitsplatz gewesen war. Als er die neue Bibliothek betrat, war das für den ehemaligen JVA-Mitarbeiter seltsam. „Ich habe kaum etwas wiedererkannt und hatte Orientierungsstörungen.“ Einige Gebäudeteile sind abgerissen, andere komplett saniert. Im Gästebuch hinterließ er einen Eintrag mit der Zeile „Gruß vom Kerkermeister“. „Ich bin begeistert, was man aus einem so alten Gebäude machen kann. Das hätten wir uns damals für die JVA auch gewünscht.“
Damals, das heißt: eine Toilette für 40 JVA-Beschäftigte und nur eine Treppe, kein Aufzug. „Über die enge Wendeltreppe mussten die Gefangenen riesige Eimer mit Essen nach oben in die Zellen bringen. Wenn sie bockig waren, ließen sie auch mal einen Eimer im Treppenhaus fallen, um uns Wärter zu ärgern“, erzählt Zimmermann. Die Treppe von damals gibt es noch immer, heute laufen dort Studierende mit blauen Bücherkörben hinauf. Die Pforte von damals ist jetzt ein Druckerraum. In der alten Turnhalle reihen sich Bücherregale aneinander.
Sogar Touristen wollen sich die neue Bibliothek im alten Schloss angucken
Für Zimmermann ist die Universität viel greifbarer geworden, seitdem sie in die Innenstadt gezogen ist. „Zum Haardter Berg habe ich kaum Berührungspunkte gehabt“, erzählt er. Stahl-Scholz hat ähnliche Erfahrungen gemacht. „Viele BürgerInnen und sogar Touristen kommen vorbei und sind neugierig, was sie im Schloss erwartet“, erzählt die Leiterin der Teilbibliothek. „Viele von ihnen wollen sich nur mal umgucken, und sind überrascht, dass hinter der altehrwürdigen Fassade so ein modern gestaltetes Innenleben auf sie wartet.“ Schade findet sie, dass es nicht, wie geplant, eine Museumszelle gibt. „Wir haben fest damit gerechnet, dass eine Zelle mit der ursprünglichen Möblierung erhalten bleibt. Für die JVA-Mitarbeiter wäre das toll gewesen als Andenken, für die Studierenden spannend, um die Vergangenheit greifbarer zu machen.“
Besonders erstaunlich findet Stahl-Scholz, dass sie als Siegenerin die JVA früher nie wahrgenommen hat. Auf dem Schlossplatz gab es das Public Viewing, den Weihnachtsmarkt und Konzerte, zum Beispiel von Udo Jürgens. „Ich habe nie darüber nachgedacht, dass ein paar Meter weiter Gefangene in ihren Zellen saßen.“ Zimmermann kann sich besonders an die Konzerte noch lebhaft erinnern: „Man hörte die Musik bis in die letzte Zelle im Knast. Klar, hat da mal der eine oder andere gemeckert, dass er statt Udo Jürgens lieber das russische Kalinka-Lied hören will, aber ernsthafte Beschwerden gab es nie.“
Von Nora Frei
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