Artur Woll – Arbeiterkind mit Migrationshintergrund
Der Gründungsrektor der Universität Siegen ist am 30. Oktober 95 Jahre alt geworden. Für den bekannten Volkswirtschaftler war der Bildungsaufstieg keine Selbstverständlichkeit.
Prof. Dr. Artur Woll, Gründungsrektor der Universität Siegen, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und erfolgreicher Autor wirtschaftswissenschaftlicher Lehrbücher, ist am 30. Oktober 95 Jahre alt geworden. Der heutige Rektor der Universität, Prof. Dr. Holger Burckhart, gratulierte Woll persönlich und überreichte gemeinsam mit Kanzler Ulf Richter einen Präsentkorb im Namen der Hochschule. „Ich gratuliere zu Ihrem stolzen Lebensalter, vor allem aber zu Ihrer stolzen Lebensleistung“, sagte Prof. Burckhart. Zusammen mit seiner Ehefrau Prof. Dr. Irene Woll-Schumacher und seiner aus Paris angereisten Tochter informierte sich Woll über die aktuellen Entwicklungen und zukünftigen Pläne seiner Hochschule. Auch Prof. Dr. Volker Wulf, Dekan der Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftsrecht) hatte den Gründungsrektor zusammen mit Fakultäts-Geschäftsführer Dr. Michael Gail besucht und ein Gemälde geschenkt.
Anlässlich des Geburtstags, und auch da immer wieder lebhafte Diskussionen über die schwierigen Aufstiegsbemühungen von Kindern aus Arbeiter- und Migrantenverhältnissen geführt werden, wirft seine Ehefrau, die Soziologin Prof. Dr. Irene Woll-Schumacher, einen Blick zurück und erzählt ein Stück Lebensgeschichte von Artur Woll.
„Seine Biographie ist sicherlich ungewöhnlich, zeigt aber, dass man einen Aufstieg auch aus schwierigsten Verhältnissen heraus schaffen kann. Artur Woll wurde 1923 in Hamborn – heute ein Stadtteil von Duisburg – geboren. Er kommt aus einer Familie mit sechs Kindern. Seine Mutter war Polin, die als Vierzehnjährige mit ihren Arbeit suchenden Eltern ins Ruhrgebiet ausgewandert war. Sie sprach Zeit ihres Lebens besser Polnisch als Deutsch, ist auch erst durch ihre Heirat Deutsche geworden. Der Vater war Bergmann, litt früh unter einer Steinstaublunge und wurde Invalide. Er hatte zu wenige Jahre gearbeitet, um eine Invalidenrente zu erhalten. Deshalb hielt er die Familie mit allerlei Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Unter anderem verrichtete er Hausmeistertätigkeiten in einem Hamborner Nonnenstift. Dorthin nahm er den kleinen Artur mit. Die Nonnen hatten Spaß an dem aufgeweckten Jungen. Sie brachten ihm – teilweise noch vor Beginn der Schulzeit – Lesen, Schreiben und Rechnen bei.
Mit 11 Jahren wurde Artur Woll zu der Schwester einer Nonne aufs Land geschickt, die mit einem Bauern im Eichsfeld (Thüringen) verheiratet war. Artur sollte fortan sein Brot selbst verdienen. Die Arbeit auf dem Land war hart und zu essen gab es wenig. In der einklassigen Zwergschule meinte der Lehrer, Artur wisse dank des Unterrichts im Nonnenstift alles, was er ihm beibringen könne. Deshalb ließ er ihn in seinem eigenen Haus Handwerksarbeiten verrichten und den Garten umgraben.
Als die Schulzeit beendet war, hätte Artur Woll gern eine Lehre begonnen. Da damals die Auszubildenden kein Geld bekamen, sondern im Gegenteil für die Lehre bezahlen mussten, war dies nicht möglich. Artur arbeitete deshalb als Bote in Büros oder als Tankwart. Mit 17 Jahren (1940) meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst. Das tat er, weil die Freiwilligen die Waffengattung wählen durften. Er wollte zur Luftwaffe. Schnell erkannte man dort seine Begabung, bildete ihn zum Piloten und Fluglehrer aus. Als Fluglehrer flog er lediglich unbewaffnete Maschinen und in der Regel nur hinter den Kampflinien. Deshalb überstand er den Krieg, ohne jemals töten zu müssen oder selbst verletzt zu werden. Nach der Kapitulation geriet er in amerikanische Gefangenschaft. Da man ihn irrtümlich für einen Flugzeugtechniker hielt, wurde er dort zur Wartung und Pflege des Fuhrparks der Offiziere eingesetzt. Diese behandelten ihn gut und unterschrieben schon nach zwei Monaten seine Entlassungspapiere.
Wieder Zivilist hätte Artur Woll gern im Luftverkehr gearbeitet. Aber Deutschland durfte damals weder militärische noch zivile Fluglinien besitzen. Er ging deshalb nach Duisburg zurück und wurde Hilfsarbeiter bei der Bahn. Er legte in einem Rangierbahnhof die Hemmschuhe, mit denen rollende Wagen gestoppt wurden. Erst als ein Vorgesetzter erfuhr, dass er morsen konnte, wurde er für anspruchsvollere Tätigkeiten eingesetzt. Artur Woll hatte sich zum Ziel gesetzt, Inspektor bei der Bahn zu werden, aber dafür brauchte man das Abitur.
Als 1950 das erste Abendgymnasium Nordrhein-Westfalens in Duisburg eröffnet wurde, ist er dorthin gegangen. Er hatte zwar in der Zwischenzeit Frau und Sohn als Alleinverdiener zu ernähren. Auch arbeitete er in drei Schichten, so dass er bei Nachtschicht die Schule nicht besuchen konnte. Doch er fiel bald dem Direktor des Gymnasiums auf, so dass dieser sich darum kümmerte, dass er nur noch im Zweischichtbetrieb arbeiten musste. 1954 bestand Artur Woll als Bester seiner Klasse das Abitur. Der Direktor schlug ihn bei der Studienstiftung des Deutschen Volkes als Stipendiaten vor. Mit dem Stipendium begann Artur Woll in Köln zu studieren und legte die Inspektorenpläne beiseite. Als Hauptfach wählte er Wirtschaftswissenschaften, als Nebenfach Politische Wissenschaften. Einer seiner akademischen Lehrer war Heinrich Brüning, der von 1930 bis 1932 Reichskanzler war.
Nach dem Studienabschluss erhielt er das Angebot, als wissenschaftlicher Assistent nach Freiburg zu gehen. Dort wurde Artur Woll nicht nur promoviert, er habilitierte sich dort auch. 1964 erhielt er einen Ruf als ordentlicher Professor nach Gießen an eine neu zu gründende Fakultät für Staatswissenschaften, die aus Juristen und Ökonomen bestehen sollte. In dieser Zeit publizierte er nicht nur viele wissenschaftliche Arbeiten und schrieb sein weitverbreitetes Lehrbuch zur Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Er erwarb sich auch große Verdienste bei Aufbau und Einrichtung der neuen Fakultät. Das führte dazu, dass er 1972 von Johannes Rau – damals Wissenschaftsminister in Nordrhein-Westfalen – als Gründungsrektor nach Siegen berufen wurde, um dort eine der neuen Gesamthochschulen aufzubauen. Dieses Amt hatte er acht Jahren inne. Danach half er noch die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät in Düsseldorf und eine Hochschule in Wuhan (China) zu errichten.
Artur Woll – das Arbeiterkind mit Migrationshintergrund – ist ein vielfach geehrter Bürger geworden. Er bekam für seine ordnungspolitischen Publikationen den Ludwig Erhard-Preis. Ihm wurde die Ehrendoktorwürde in Düsseldorf und Gießen zuteil. In Wuhan wurde er zum professor of honour ernannt. Für seine Leistungen im Hochschulmanagement und als Gründungsrektor verlieh man ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande und das Erster Klasse, des Weiteren den Landesorden von Nordrhein-Westfalen. In Siegen machte man ihn auf Lebenszeit zum Ehrensenator der Universität und benannte ein neues Hochschulgebäude nach ihm.
Wenn man ihn heute fragt, was seine Erfolge begründet, sagt er immer: ‚Sicherlich waren Leistungsbereitschaft, Fleiß und Begabung grundlegend. Aber genauso wichtig waren Menschen, die mir Wege aufzeigten, mich förderten und auf diesen Wegen ein Stück begleiteten.‘“