Lehramts-Praxissemester auf dem Prüfstand
Forscherinnen und Forscher der Universität Siegen haben mit KollegInnen der Universitäten Köln und Paderborn untersucht, ob die Ziele des in Nordrhein-Westfalen eingeführten Praxissemesters für Lehramtsstudierende erreicht werden.
Seit dem Jahr 2015 müssen Lehramtsstudierende in Nordrhein-Westfalen ein verpflichtendes Praxissemester an einer Schule absolvieren – eine der bislang größten curricularen und strukturellen Veränderungen in der universitären Lehrerbildung. Inwieweit die mit dem Praxissemester verbundenen Ziele tatsächlich erfüllt werden, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Zentrums für Lehrerbildung und Bildungsforschung der Universität Siegen jetzt in Kooperation mit den Universitäten zu Köln und Paderborn standortübergreifend untersucht. Im Projektverbund „Learning to Practice, Learning to Reflect?“ (LtP) analysierten sie im Rahmen einer Längsschnittstudie unter anderem, wie das Praxissemester genutzt wird, wie wirksam es ist und wie sich die professionelle Kompetenz angehender LehrerInnen entwickelt.
Wie viel Wissenschaft und wie viel Schulpraxis sollte die universitäre Lehramtsausbildung enthalten, damit sie eine gelingende Entwicklung angehender Lehrerinnen und Lehrer ermöglichen kann? Und wie können Wissenschaft und Praxis sinnvoll miteinander verbunden werden? Solche Fragen nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis in der Lehrerbildung wurden in der Vergangenheit immer wieder gestellt. Ziel des im Vergleich zu vorherigen Schulpraktika zeitlich erweiterten Praxissemesters ist es, Lehramtsstudierende zu befähigen, Beobachtungen in der Schul- und Unterrichtspraxis theoriegeleitet zu analysieren. Die Studierenden sollen lernen, ihre schulischen und unterrichtlichen Erfahrungen vor dem Hintergrund forschungsbasierter Befunde und Modelle zu reflektieren. Darüber hinaus sollen Lehramtsstudierende im Praxissemester ihre eigenen unterrichtlichen Handlungen unter Anleitung theorie- und wissensgeleitet planen, erproben und reflektieren.
Um herauszufinden, inwieweit diese Ziele tatsächlich erreicht werden (können), haben die WissenschaftlerInnen Lehramtsstudierende befragt, die 2016 ihr Praxissemester durchlaufen hatten. Um ihren Kompetenzerwerb zu überprüfen, fand vor und nach dem fünfmonatigen Praktikum jeweils eine Befragung statt. Besonders stark veränderten sich im Ergebnis die Selbsteinschätzungen der Studierenden: sie selbst schätzten ihren Kompetenzerwerb sehr positiv ein. Ferner stieg die Überzeugung, auch schwierige Situationen im Lehrerberuf (z.B. aufkommende Störungen im Unterricht) erfolgreich meistern zu können. Zusammengefasst nutzten die angehenden Lehrkräfte das Praxissemester, um ein positives Selbstbild als zukünftige Lehrperson aufzubauen. Ob die positiven Veränderungen der Selbsteinschätzungen ausgehend von bereits vielfach hohen Ausgangswerten als sich steigernde Idealisierung der eigenen Fähigkeiten bzw. gar als zunehmende Selbst-Illusionierung zu deuten sind, ist in weiteren Forschungsbemühungen kritisch zu prüfen.
Im Bereich des Wissenserwerbs zeigte sich, dass sich Studierende im Praxissemester weniger neues Faktenwissen aneignen. Stattdessen ist ein Zuwachs handlungsnahen Wissens erkennbar, das zum Beispiel die Entwicklung von Handlungsstrategien auf mögliche unterrichtliche Problemsituationen umfasst. Veränderungen im Beanspruchungserleben, in der Sicherheit der Berufswahl und auch in der Freude an der Schulpraxis sind sehr schwach.
Von Bedeutung ist schließlich der Befund, dass sich Lehramtsstudierende in der schulpraktischen Phase eher an der etablierten Praxis an den Ausbildungsschulen orientieren. Das bedeutet, dass Lernprozesse und Lernergebnisse im Praxissemester stärker durch Personen und Bedingungen der Schulen vor Ort – ob gut oder schlecht – geprägt werden, als durch die Ausbildung in vorbereitenden und begleitenden Seminaren der Universität und der Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung. Prozesse der Berufssozialisation und Anpassung der Studierenden an die bestehende Praxis dominieren, die Qualifikationsfunktion des Praxissemesters im Sinne einer umfassenden Anleitung zur wissenschaftsbasierten Reflexion und Analyse vorgefundener oder auch eigener (Unterrichts-)Praxis erscheint weniger eingelöst – zumal die Lehramtsstudierenden während des fünfmonatigen Praxissemesters insbesondere unterrichtliche Handlungssituationen geplant und durchgeführt und weniger selbst erlebte praktische Situationen kritisch analysiert und reflektiert haben. Letzteres wäre aber der Fokus des Praxissemesters als Teil eines Studiums.
Weiterführende Informationen zum Forschungsprojekt Learning to Practice, Learning to Reflect? können dem aktuell veröffentlichten Projektband entnommen werden: König, J., Rothland, M. & Schaper, N. (Hrsg.) (2018). Learning to Practice, Learning to Reflect? Ergebnisse aus der Längsschnittstudie LtP zur Nutzung und Wirkung des Praxissemesters in der Lehrerbildung. Wiesbaden: Springer VS. Verfügbar über: https://www.springer.com/de/book/9783658195359
Kontakt:
Prof. Dr. Martin Rothland
(Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung der Universität Siegen)
E-Mail: rothland@zlb.uni-siegen.de
Tel.: 0271-740 3696
Das LtP-Projektteam (v.l.): Prof. Dr. Niclas Schaper (Paderborn), Dr. Martin Drahmann (Tübingen), Sarah Katharina Boecker (Siegen), Dr. Andreas Seifert (Paderborn), Prof. Dr. Martin Rothland (Siegen), Stefan Klemenz (Köln), Kerstin Darge (Köln), Dr. Dagmar Festner (Paderborn), Prof. Dr. Johannes König (Köln).