PädagogInnen sehen junge Geflüchtete in Jugendtreffs als „die Anderen“
(Sozial-)Pädagogische Fachkräfte in Jugendzentren und sonstigen Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit begegnen Geflüchteten häufig voreingenommen und „kulturalisierend“. Sie grenzen sie damit als „die Anderen“ ab. Die jungen Geflüchteten ihrerseits suchten in den Jugendtreffs nichts anderes als die gleichaltrigen Jugendlichen: Spiel, Sport, Musik, Kontakte und Gespräche, Ausflüge, Freunde – Normalität statt Flucht. Diese Erkenntnisse gehen aus einer systematischen Untersuchung an der Universität Siegen hervor. Die Ergebnisse ihrer Studie haben die WissenschaftlerInnen jetzt im Rahmen einer Fachtagung unter dem Titel „Die Anderen? Jugendarbeit und Flucht. Empirische und theoretische Perspektiven“ in die Goethe-Universität Frankfurt vorgestellt und diskutiert. Die Pilotstudie und die Fachtagung wurden von der Stiftung Ravensburger Verlag gefördert.
Weißer Fleck in der Forschungslandschaft
Wie nutzen Minderjährige und junge Erwachsene mit einer Fluchtgeschichte die Angebote der Jugendarbeit? Welche Bedeutung hat Jugendarbeit für ihre Lebenswelt? Und welche Sicht haben (sozial-)pädagogische Fachkräfte auf die Situation der geflüchteten jungen Menschen? Diesen Fragen sind die Siegener ErziehungswissenschaftlerInnen unter Leitung von Professor Dr. Thomas Coelen und Dr. des. Jennifer Buchna mit ihrer Studie nachgegangen. Sie befragten dazu 70 Fachkräfte in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz (repräsentative Erhebung) sowie 26 Geflüchtete in problemzentrierten, ausführlichen, erzählenden Interviews, teils mit Dolmetscherhilfe (qualitative Erhebung). Über das Thema „Jugendarbeit und Flucht“ existieren bislang sehr wenige empirische Forschungsergebnisse.
Jugendliche mit einer Fluchtgeschichte, die aus eigenem Antrieb regelmäßig Jugendtreffs aufsuchen, haben meist von Freunden und Gleichaltrigen, Jugend- und SozialarbeiterInnen davon erfahren. Sie reagierten positiv auf Sport- und Spielangebote wie Fußball, Basketball, Tischtennis, Kicker, Billard oder Playstation, ebenso auf gemeinsames Kochen und Essen, „Spaß haben“, im Internet surfen und Gruppenausflüge. Zugleich erkennen sie die Chance, praktische Hilfe in sprachlichen Alltagsdingen, beim Ausfüllen von Formularen und behördlichen Fragen oder in allgemeinen Gesprächen zu finden. Manche der Geflüchteten übernehmen auch ehrenamtliche Tätigkeiten und Verantwortung, zum Beispiel als Dolmetscher oder als Turnhallenwart.
„Wenn sie das Jugendzentrum als ‚zweite Wohnung‘ betrachten, unterscheiden sie sich nicht von anderen Jugendlichen, die in Deutschland geboren wurden oder schon länger hier leben und die ihre Freunde lieber nicht im häuslich-familiären Umfeld treffen möchten, sondern in einem öffentlichen Raum“, erklärt Projektleiter Professor Dr. Thomas Coelen. Ein Ergebnis der Interviews mit Geflüchteten sei, dass ihnen Jugendarbeit „Ermöglichungsräume“ erschaffe. „Jugendliche brauchen Gelegenheiten, ihre Interessen zu entfalten, ihre Identität zu entwickeln, ein Lebensgefühl zu erspüren, das ihnen die alltäglichen Lebensräume Schule und Familie nicht ermöglichen können. Darin unterscheiden sich geflüchtete und hier groß gewordene Kinder und Jugendliche nicht.“ Manche der Interviewten waren in den Jugendtreffs auch mit Diskriminierung konfrontiert, grundsätzlich aber erlebten die meisten die Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit als diskriminierungsärmer.
Warum besuchen weniger Mädchen die Jugendtreffs?
Der Anteil an Geflüchteten in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit beträgt 10 bis 40 Prozent, sie sind zwischen 11 und 27 Jahre alt, mehrheitlich kommen Jungen und junge Männer. Diese Geschlechterverteilung wird von den meisten (sozial)pädagogischen Fachkräften auf eine vermeintliche Kultur oder Herkunft und damit verbundenen Verhaltensweisen zurückgeführt, die den Jugendlichen und ihren Familien zugeschrieben werden. So sagten die MitarbeiterInnen in den Interviews zum Beispiel, Mädchen würde es von den Familien verboten, in ein Jugendzentrum zu gehen – oder sie trauten sich selbst nicht. „Nur wenige Fachkräfte erklären die geringeren Besuchszahlen anders, zum Beispiel damit, dass Mädchen lieber alternative Angebote in der Umgebung wahrnähmen, zum Beispiel Tanzkurse, oder dass Mädchen ohnehin seltener Jugendtreffs aufsuchten als Jungen“, berichtete Dr. des. Jennifer Buchna. „Nicht die Besucherinnen selbst, sondern ihr angenommenes kulturelles Umfeld steht im Vordergrund.“
Die Siegener Erziehungswissenschaftlerin führt die oft „kulturalisierende“ Sichtweise vieler Fachkräfte, die mit tradierten Vorstellungen und Erklärungen auf die Jugendlichen zugehen, auf die „Wirkungsmacht des negativen öffentlichen Diskurses“ zurück. Die öffentliche Sprache von PolitikerInnen, BürgerInnen und Medien sei von negativen Begriffen wie „anders“, „fremd“, „Flüchtlingswelle“, „sich anpassen“, „Flüchtlingsproblem“ geprägt. Niemand bliebe davon unbeeinflusst, auch nicht die PädagogInnen. An dieser Stelle gelte es, Fachkräfte für die reale Lebenswelt der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu sensibilisieren.
„Die Ergebnisse der Pilotstudie sollen nicht nur dem Forschungsdialog dienen, sondern Handlungsorientierung für die praktische Jugendarbeit bieten“, erläuterte Johannes Hauenstein, Vorstand der Stiftung Ravensburger Verlag das Engagement der Stiftung. „Wie die Auswertungen der Interviews zeigen, hat die Offene Jugendarbeit, in der Jugendliche Kontakt zu Gleichaltrigen knüpfen können, eine integrative und identitätsbildende Bedeutung, die nicht hoch genug bewertet werden kann.“