Metastasenbildung am Computer simulieren
Forschende der Universitäten Siegen und Gießen zeigen mit einem neuen Simulationsmodell, wie Zellen, die sich von einem Tumor abgetrennt und über das Blutgefäßsystem verteilt haben, in gesundes Gewebe eindringen. Das kann die Vorhersage der Wirksamkeit von Therapien verbessern.
Krebserkrankungen sind für fast zehn Millionen Tote pro Jahr weltweit verantwortlich. Die Hauptursache für den krebsbedingten Tod ist die Bildung von Metastasen, eine Folgeerscheinigung des eigentlichen Tumors. Obwohl dieses Phänomen ein Hauptmerkmal von Krebs ist, ist es bisher noch nicht in seiner Gesamtheit erforscht. Da die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Krebsbehandlung deutlich sinkt, wenn der Tumor bereits Metastasen gebildet hat, sind Werkzeuge zur Vorhersage des Tumorwachstums und der Metastasenbildung sehr wichtig. In der Forschung können Computersimulationen dabei wichtige Erkenntnisse liefern. Daran arbeiten Forschende der Universitäten Siegen und Gießen.
Privatdozent Dr. Stephan Bäurle, Leiter des Arbeitskreises für Theoretische Chemie an der Universität Siegen, hat zusammen mit seinem Doktoranden Kay M. Schneider und der Zellbiologin Prof. Dr. Klaudia Giehl (Justus-Liebig-Universität Gießen) den Prozess der Metastasenbildung mithilfe von Computer-Methoden simuliert. „Wir können dabei das Wechselspiel zwischen verschiedenen mechanischen, chemischen und biologischen Faktoren einbeziehen“, erklärt Dr. Bäurle. „Die Simulationen tragen so zur Aufklärung der Mechanismen der Metastasierung und zur Vorhersage der Wirksamkeit sowie der Abschätzung von Risiken wirkstoffbasierter Tumortherapien bei.“ Der neu entwickelte Computer-Algorithmus ist in der Lage, den vollständigen Prozess zu simulieren.
Bevor der Algorithmus eine Simulation ermöglicht, müssen die biomechanischen und physiologischen Prozesse verstanden werden. Die Forschenden wissen, dass der Prozess der Metastasenbildung aus mehreren Schritten besteht. Zuerst spalten sich die metastasierenden Zellen vom Primärtumor ab und treten dann in das Blutgefäßsystem ein. Man spricht dabei von Intravasation. Die Zellen, die auch als zirkulierende Tumorzellen (ZTZ) bezeichnet werden, wandern dann durch das Gefäßsystem. Wenn die Tumorzellen diesen Schritt überlebt haben, können sie das Gefäßsystem auch wieder verlassen und in das umliegende Gewebe eindringen. Dieser Prozess, auch Extravasation genannt, ist abgeschlossen, wenn die Tumorzelle sich im Zielgewebe eingebettet hat.
Obwohl es bereits zahlreiche experimentelle Studien gibt, die die verschiedenen Phasen dieser Prozesse beschreiben, gab es bislang noch keine zellbasierten Computer-Modelle, die imstande waren, den vollständigen Prozess der Extravasation von zirkulierenden Tumorzellen zu simulieren.
In einer kürzlich erschienen Veröffentlichung (https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/cnm.3679) haben Bäurle, Schneider und Giehl einen Algorithmus vorgestellt, der genau das kann. Mithilfe des neuen Rechenverfahrens ist es möglich, die zeitliche Entwicklung des Zellsystems und die Veränderung der Verteilung der abgesonderten Substanzen vorherzusagen. Die Forschenden fanden heraus, dass sich der Extravasationsprozess in vier verschiedene Phasen aufspaltet. In Phase I kommt es zur Anziehung mittels einer chemischen Substanz (Chemoattraktion) von Blutplättchen durch die Tumorzellen und zur Bildung von ZTZ-Blutplättchen-Clustern. In Phase II steigert sich ihre chemotaktische Empfindlichkeit und die ZTZ-Blutplättchen-Cluster wandern, angezogen durch eine weitere chemische Substanz, in Richtung der Blutgefäßwand. In Phase III erfolgt die Durchdringung der Blutgefäßwand. Und in Phase IV wird die Wunde in der Blutgefäßwand geschlossen und es findet die Einbettung der Tumorzellen im Epithelzellgewebe, einer Art zellulärer Schutzschicht um das Blutgefäß, statt.
Was im Modell auch deutlich wurde: „Bei der finalen Simulationszeit ist die Tumorzelle immer noch nicht zum Stillstand gekommen“, erklärt Dr. Bäurle. „Ihre Fähigkeit sich durch das Epithelzellgewebe zu bewegen wird sowohl durch die gewebeeigene Bewegung als auch durch Einschränkungen ihrer Bewegung durch die Umgebung bestimmt.“
Es zeigte sich, dass das Modell im Einklang mit experimentellen Ergebnissen steht und somit also der vollständige Prozess der blutplättchen-induzierten Extravasation von ZTZ simuliert werden kann. „Damit ist der Weg für die Entwicklung neuer Softwarewerkzeuge zur Vorhersage der Wirksamkeit wirkstoffbasierter Tumortherapien und für neue experimentelle Arbeiten geebnet“, so Dr. Bäurle.
Dr. Stephan Bäurle (rechts ) und sein Doktorand Kay M. Schneider von der Universität Siegen haben zusammen mit der Zellbiologin Prof. Dr. Klaudia Giehl von der Universität Gießen den Prozess der Metastasenbildung am Computer simuliert.