Romseminar 2022
 
        Romseminar 2022
Hard Problems
            
            Warum sich die Beschäftigung mit schweren Problemen
            lohnt. Perspektiven aus Mathematik und
            Informatik
Es obliegt dir nicht, die Arbeit zu vollenden, es steht dir aber nicht frei, sich ihrer zu entledigen. Sprüche der Väter [Pirkei Avot] 2,21
Du darfst die Parallelen auf jenem Wege nicht versuchen; ich kenne diesen Weg bis an sein Ende – ich beschwöre Dich bei Gott! Lass die Lehre von den Parallelen in Frieden (…) sie kann Dich um all’ Deine Muße, um die Gesundheit, um Deine Ruhe und um Dein ganzes Lebensglück bringen.em> Farkas Bolyai (Mitentwickler der nichteuklidischen Geometrie) an seinen Sohn Janos (1820)
Auch wenn manche meinen, die gesamte Mathematik und
            auch Bereiche der Informatik bestünden ausschließlich
            und unterschiedslos aus schwierigen Problemen, die für
            die Experten auf wundersame Weise ganz leicht seien, so
            zeigt doch bereits ein flüchtiger Blick in ihre
            jeweilige Geschichte, dass die ‚Härteskala‘ eines
            Problems oder einer Konstellation von Problemen für die
            Entwicklung der Mathematik und Informatik von größter
            Wichtigkeit ist. Ein erheblicher Teil der
            mathematischen Forschung ist ja gerade dem Bestreben
            gewidmet, hinreichend schwierige, aber dennoch lösbare
            – also interessante, jedoch nicht hoffnungslose –
            Aufgaben zu formulieren.
            
            Schaut man über den Forschungsalltag hinaus, dann
            erweisen sich häufig auch die ‚unlösbar‘ schwierigen
            Probleme als extrem fruchtbar für die Weiterentwicklung
            der Mathematik. Hier nur einige wenige Beispiele:
- Die klassischen Konstruktionsprobleme der Geometrie – also die Quadratur des Kreises, die Verdoppelung eines Würfels oder die Drittelung eines Winkels, jeweils nur mit Zirkel und Lineal – sind allesamt unlösbar, haben aber über Jahrtausende zu reichhaltiger Mathematik angespornt.
- Leicht zu formulierende Fragen wie das Parallelenproblem oder die Suche nach einer allgemeinen Lösungsformel für Polynome höherer Ordnung haben durch ihre Unlösbarkeit zu ganz neuen Forschungsgebieten, nämlich zur nichteuklidischen Geometrie und Galoistheorie geführt.
- Die Nichtentscheidbarkeit der Kontinuumshypothese, also des ersten von David Hilberts berühmten offenen Problemen um 1900, hat zu einem vertieften Verständnis der Struktur der reellen Zahlen und der Mengentheorie geführt.
Im Rahmen der Informatik entsteht zudem die
            Möglichkeit, den Aufwand beim Lösen eines Problems
            durch einen Algorithmus zu klassifizieren; die
            ‚Schwierigkeit‘ eines Problems kann also wiederum
            mathematisch gemessen werden. Ein berühmtes offenes
            Problem in diesem Zusammenhang ist durch die Gleichung
            P=NP charakterisiert. Dieses noch ungelöste Problem
            führt die Liste der sieben vom Clay Institute im Jahre
            2000 aufgestellten „Millenniums-Probleme“ an, für deren
            Lösung jeweils eine Million Dollar angeboten wird. Das
            Knacken harter Nüsse kann also sogar profitabel sein!
            
            Im Romseminar soll aber auch der Blick über den engeren
            Bereich von Mathematik und Informatik hinaus geweitet
            werden. Im gesellschaftlichen Kontext nehmen wir
            derzeit Herausforderungen wahr, die sich durchaus unter
            die Überschrift ‚harte Probleme‘ stellen lassen:
            Klimawandel und Nachhaltigkeit, Migration, Fragen der
            (sozialen bzw. internationalen) Gerechtigkeit, die
            Suche nach einer globalen Rechts- oder Friedensordnung
            und ganz aktuell der Umgang mit Pandemien. Hier zeigt
            gerade auch der öffentliche Diskurs – von
            populistischen Parolen bis zu Verschwörungstheorien –,
            dass immer wieder scheinbar ganz einfache Lösungen für
            harte Probleme angeboten werden. Und es erweist sich
            nun wiederum als schweres Problem, mit diesen
            fundamentalistischen Positionen in kluger Weise
            umzugehen. Häufig stehen wir bei diesen und weiteren
            komplexen Situationen vor der Frage, wie auf der Basis
            unzureichender Information und unter Zeitdruck eine
            legitime und ggf. sogar kluge Entscheidung zu finden
            ist.
            
            
            Schließlich zeigt ein Blick in die Geschichte, wie
            verschiedenste Kulturen auf verblüffende Weise in der
            Lage waren, schwierigste Probleme zu lösen. Dabei ist
            es ein faszinierendes Gebiet der Archäologie,
            Geschichtswissenschaft und Soziologie, diesen Umgang
            möglichst adäquat zu rekonstruieren. Bis heute ist es
            eine Herausforderung zu analysieren, wie etwa
            ‚prähistorische‘ Gesellschaften ein Monument wie
            Stonehenge errichten konnten, wie antike Völker in
            heutigen Wüsten ein Bewässerungssystem aufbauen konnten
            und Gärten gestaltet haben oder auch wie diverse
            Hochkulturen Kalender entwickelt haben, die subtile
            Himmelsverläufe erstaunlich genau nachbilden.
            
            
            Das Romseminar 2021 wird sich dem Thema ‚schwere
            Probleme‘ auf mehreren Ebenen widmen. Zum einen will es
            der Frage nachgehen, was ein Problem ‚schwer‘ macht,
            auch ob diese Einteilung stets so bleibt und was es mit
            sich bringt, wenn das ‚schwere‘ Problem eine lange
            Tradition hat. Zum anderen widmet sich das Seminar der
            Frage, was ‚Unlösbarkeit‘ sowohl inner- wie auch
            außerhalb von Mathematik und Informatik heißt. Kann ein
            vertieftes Verständnis davon auch bei anderen
            Problemstellungen hilfreich sein und hilft dies die
            kritische Urteilskraft zu stärken, auch wenn der eigene
            Erkenntnisstand nur partiell ist? Schließlich nimmt es
            die Diskussion auf, ob man sich schweren Problemen
            widmen oder diese lieber umgehen soll, denn das Leben
            ist bekanntlich kurz und Misserfolg nicht
            ausgeschlossen. Insgesamt erhoffen wir uns, bei der
            Beschäftigung mit ‚Hard Problems‘ teilweise verblüffend
            und faszinierend einfache Lösungen kennenzulernen, eine
            kritische Urteilsfähigkeit gegenüber ‚zu einfachen‘
            Lösungen zu entwickeln und vom virtuosen Umgang mit
            unlösbaren Problemen zu lernen.
            
            
            Insgesamt bietet das Seminar damit die besondere
            Möglichkeit, über den Tellerrand des eigenen
            Studienfachs hinauszuschauen und Studierende dreier
            anderer Hochschulen (Tübingen, Kiel und Dresden)
            kennenzulernen. Selbstverständlich wird nicht erwartet,
            dass ein Referat eines der behandelten offenen Probleme
            löst – aber ein Ziel der Vorbereitung ist es, zu
            lernen, wie man den Kern eines allgemein als schwer
            aufgefassten Gebiets effektiv und einladend
            kommunizieren kann. Dafür werden Techniken einer
            gelungenen Präsentation erläutert und eingeübt.
            
            
            Im Laufe des Wintersemesters werden wir uns zunächst
            das Thema durch gemeinsame Lektüre, kurze
            Impulsreferate und Diskussionen auf- und erschließen.
            Bis Ende Dezember soll dann jede/r Teilnehmer/in ein
            eigenes Thema für eine Präsentation gefunden und diese
            im Dialog mit den Studierenden vor Ort bis Ende des
            Semesters erprobt haben. Diese Präsentation wird
            schließlich während der Exkursionsphase in Rom (1. bis
            6. März 2021) vor einer aus allen vier Hochschulen
            bestehenden Gruppe vorgestellt und diskutiert. Dabei
            lassen wir uns durch ein vielfältiges Begleitprogramm
            auch an sonst nicht zugänglichen Orten dieser ‚Ewigen
            Stadt‘ inspirieren.
Link zu Unisono-Veranstaltung
