Siegener Gesundheitssoziologe trifft Bundespräsidenten
Expertise zum Thema „Einsamkeit“ gefragt: Gesundheitssoziologe Prof. Dr. Claus Wendt von der Uni Siegen hat an einem Fachgespräch bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue teilgenommen.
Auch nach Corona leiden viele Menschen in Deutschland unter Einsamkeit. Das hat unmittelbare Folgen für ihre eigene physische und psychische Gesundheit, aber auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Denn Einsamkeit führt häufig zu einem sinkenden Vertrauen in Mitmenschen und in politische und gesellschaftliche Institutionen. Warum Menschen in Deutschland einsam sind, wie ihnen geholfen werden kann und welche Maßnahmen sich in anderen Ländern bewährt haben – darum ging es jetzt in einem Fachgespräch bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Insgesamt vier Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis waren dazu ins Berliner Schloss Bellevue eingeladen. Darunter auch der Gesundheitssoziologe Prof. Dr. Claus Wendt von der Universität Siegen. Wendt beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Einsamkeit und legt dabei einen besonderen Fokus auf den internationalen Vergleich.
Über die Einladung des Bundespräsidenten habe er sich sehr gefreut, sagt Prof. Wendt: „Das war eine große Ehre und wir hatten einen wirklich angenehmen und intensiven Austausch. Gleichzeitig begrüße ich sehr, dass das Thema Einsamkeit in der Politik ankommt. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass der Bundespräsident um die enorme Relevanz weiß und dies auch weiterträgt. Für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Einsamkeit sind das Interesse und Engagement von Herrn Steinmeier sehr bedeutsam.“
Wendt brachte in dem Fachgespräch insbesondere eine internationale Perspektive ein: So liegen die Einsamkeitswerte in Deutschland im europaweiten Vergleich im Mittelfeld. Am wenigsten einsam fühlen sich die Menschen in nordeuropäischen Ländern wie Dänemark oder Norwegen und in den Niederlanden. Deutlich höher sind die Werte dagegen in Süd- und Osteuropa (z.B. Portugal, Spanien, Ungarn, Rumänien, Slowakei). „Wir beobachten, dass sich die Menschen in ausgebauten Wohlfahrtsstaaten weniger einsam fühlen. Einsamkeit, Gesundheit und soziale Faktoren hängen eng miteinander zusammen und verstärken sich gegenseitig. Deshalb sind Leistungen und Institutionen, die einen sozialen Schutz bieten und Menschen in die Gesellschaft integrieren sehr wichtig. Dazu zählen finanzielle Transferleistungen, aber vor allem auch ein funktionierendes Bildungssystem, Vereine und eine gute Gesundheitsversorgung und Pflege“, erklärt Prof. Wendt.
Insgesamt beobachten Expert*innen, dass die Einsamkeit nach Corona in vielen Ländern auf einem höheren Niveau geblieben ist als vor der Pandemie. In Deutschland sind neben älteren Menschen insbesondere Kinder und Jugendliche verstärkt von Einsamkeit betroffen. Grund sei neben den Corona-Nachwirkungen auch die zunehmende Mediennutzung, sagt Wendt. Er sieht vor allem die Vereine in der Pflicht, um Kinder und Jugendliche aus der Isolation zu holen. Dabei könne Deutschland von den nordeuropäischen Ländern lernen, die in Vereinen viel stärker auf professionelle Kräfte setzen: „Anders als bei uns gibt es dort deutlich mehr pädagogisch ausgebildete Profi-Trainer, die mit den Kleinsten arbeiten und sehr kompetent mit gesellschaftlichen Fragen wie Einsamkeit umgehen können.“ Auch in den Schulen sei die Qualität der Betreuung anderswo deutlich höher als in Deutschland, sagt Wendt. Kommen bei uns beispielsweise auf eine Schulpsychologin fast 10.000 Schüler*innen, sind es in Dänemark oder Estland weniger als 1.000 Schüler*innen.
Mit Blick auf ältere Menschen plädiert Wendt für eine bessere Organisation der Pflege vor Ort. Häufig gebe es in der unmittelbaren Wohnumgebung zu wenige Unterstützungsangebote, damit Pflegebedürftige in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können. Bei einem Umzug ins Pflegeheim gingen soziale Kontakte zu Freunden und Nachbarn jedoch häufig verloren und die Einsamkeitswerte steigen, so der Gesundheitssoziologe. Auch hier gebe es in anderen Ländern wie Dänemark, den Niederlanden oder der Schweiz deutlich bessere Strukturen.
Die Ergebnisse seiner Untersuchungen hat Prof. Wendt in einem Eckpunktepapier zusammengefasst, das demnächst im Bundesgesundheitsblatt publiziert werden soll. Im Juni ist er außerdem zur Jahrestagung des Deutschen Ethikrates eingeladen, der sich ebenfalls mit dem Thema Einsamkeit befasst.
Kontakt:
Prof. Dr. Claus Wendt
E-Mail: wendt@soziologie.uni-siegen.de
Tel.: 0271 7403215
Der Siegener Gesundheitssoziologe Prof. Dr. Claus Wendt (ganz links) nahm mit vier weiteren Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis an einem Fachgespräch zum Thema "Einsamkeit" bei Bundespräsident Steinmeier im Schloss Bellevue teil.
(Foto: Bundesregierung / Guido Bergmann)