Der Mensch im Mittelpunkt
Drei Jahre lang haben WissenschaftlerInnen im Forschungskolleg der Uni Siegen zu technischen Assistenzsystemen geforscht – den Nutzer immer fest im Blick. Das Ende von „Cognitive Village“ ist der Startschuss für viele weitere Folgeprojekte.
Ein intelligenter Boden, der Stürze erkennt; smarte Brillen und Armbänder, die die Hausärztin beim Erkennen von Krankheiten unterstützen können; der Freund, der via Videotelefonat Einkäufe für einen erledigt, weil man selbst dazu nicht mehr in der Lage ist: Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojektes „Cognitive Village – Vernetztes Dorf“ haben WissenschaftlerInnen im Forschungskolleg (FoKos) der Universität Siegen in den vergangenen drei Jahren an und mit zahlreichen technischen Anwendungen gearbeitet, die älteren und kranken Menschen vor allem im ländlichen Raum den Alltag erleichtern sollen. Das Projekt und die Ergebnisse haben für Aufmerksamkeit gesorgt – auch, weil von Beginn an die potentiellen Nutzerinnen und Nutzer selbst im Mittelpunkt standen und miteinbezogen worden sind.
So war es auch selbstverständlich, dass einige SeniorInnen aus dem Bad Berleburger Ortsteil Elsoff zu Symposium und Podiumsdiskussion unter dem Titel „Gemischte Gefühle“ nach Siegen gekommen waren, wo zum Abschluss des Projektes WissenschaftsexpertInnen aus der ganzen Welt über Möglichkeiten und Grenzen von technischen Assistenzsystemen sprachen. In Elsoff wurde zum Beispiel im Gemeindehaus der intelligente Fußboden „SensFloor“ verlegt und SeniorInnen von den ForscherInnen in Workshops an die so nützlichen, aber oftmals fremden technischen Helfer herangeführt.
„Wir haben sehr viel erreicht“, freute sich Projektleiterin Prof. Dr. Claudia Müller zum Abschluss von Cognitive Village und bezog sich damit auf die technologischen Innovationen einerseits sowie die Fortschritte in Sachen Nutzerpartizipation andererseits. In dieser Hinsicht sei in Siegen Pionierarbeit geleistet worden. „Technikentwicklung kann nicht mehr im Elfenbeinturm stattfinden.“ Häufig gehe es bei Entwicklungen vor allem um die Funktionalität der Technik, nicht aber um den eigentlichen Nutzen für den Menschen. Das sei der falsche Weg. Wichtig sei zudem, die Stärken und Schwächen der Region miteinzubeziehen. Wie positiv sich das letztlich auswirken kann, zeigte das Projekt anschaulich: „Die anfängliche Ablehnung in Elsoff ist umgeschlagen in Begeisterung“, berichtete Dipl.-Ing. Dana Kurz vom Team Cognitive Village über den Umgang der älteren Menschen mit den technischen Helfern.
Elementarer Bestandteil des Projekts war die Zusammenarbeit von WissenschaftlerInnen aus verschiedensten Bereichen wie Wirtschaftsinformatik, Sozialwissenschaften oder Stadtplanung und Partnern aus der Industrie. Dadurch haben sich immer wieder neue Blickwinkel und Möglichkeiten ergeben. „Zu Beginn des Projektes dachte ich, ich beschäftigte mich mit Mustererkennung. Letztlich ist daraus eine menschenbezogene Mustererkennung geworden“, berichtete Prof. Dr. Marcin Grzegorzek, Sprecher des Konsortiums Cognitive Village und bis vor Kurzem an der Uni Siegen tätig. Bei der Mustererkennung geht es darum, in einer Menge an Daten Regelmäßigkeiten oder Wiederholungen zu erkennen. Die vielfältigen Daten, die zum Beispiel eine smarte Uhr oder Brille liefern, werden durchgehend direkt vom Menschen für den Bedarf des Menschen ermittelt. Dabei wurden Algorithmen zur Mustererkennung aus dem Labor in der Praxis auf die Probe gestellt, weiterentwickelt und robuster gemacht. So ging aus dem Forschungsprojekt letztlich auch eine Promotionsarbeit zum Thema Mustererkennung hervor.
Von den Erkenntnissen und Entwicklungen aus Cognitive Village zeigte sich auch Prof. Dr. Christian Tanislav angetan. Der Leiter der Geriatrie am Jung-Stilling-Krankenhaus nahm als Gast am Symposium teil. „Ich sehe großes Potential für die Erforschung von zum Beispiel neurodegenerativen Erkrankungen. Das könnte eine riesige Hilfe für Ärzte sein“, sagte er mit Blick auf die Menge an Daten, die rund um die Uhr – und vor allem auch zu Hause statt nur in der Klinik – von Patienten erfasst werden können.
Und so ist das Ende von „Cognitive Village“ der Startschuss für viele weitere Projekte, wie etwa die transnationale Studie „Access“, die sich mit der digitalen Kompetenz älterer Menschen beschäftigt. Außerdem werden Handlungsempfehlungen an das Bundesministerium für Bildung und Forschung, welche das Projekt gefördert hat, gegeben. Das Ziel ist klar: Der Mensch soll im Mittelpunkt bleiben. Vor diesem Hintergrund sieht FoKos-Geschäftsführer Dr. Olaf Gaus das Forschungskolleg in einer besonderen Rolle: „Wir sind hier in der Region Südwestfalen – und die ist uns wichtig. Wir alle möchten unabhängig und selbstbestimmt leben, unabhängig davon, ob wir 20, 40 oder 80 Jahre alt sind. Das ist eine große Herausforderung. Um sie anzunehmen, müssen wir uns in der Region Südwestfalen eine Meinung darüber bilden, wie unsere Zukunft aussehen kann.“