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Selbstfindung zwischen Kriminalität und dicken Schlitten

Wie nutzen Jugendliche das Musikgenre Gangsta-Rap, um ihre eigene Identität auszubilden und zu stärken? Das erforscht Professor Dr. Bernd Dollinger in einem Projekt. Dabei ist ihm besonders wichtig, mit den Jugendlichen zu sprechen – und nicht über sie, wie es sonst oft geschieht.

Sie singen über Gewalt und Bitches („Schlampen“) – und gehören gleichzeitig zu den Musikern, die von Jugendlichen in Deutschland am meisten gehört werden: Gangsta-Rapper. Zu den Stereotypen dieser Musikrichtung zählen unter anderem luxuriöse Autos und Schmuck, Drogenhandel und Waffen. „Kriminalität wird als positiv herausgestellt“, sagt Prof. Dr. Bernd Dollinger von der Fakultät II, Department Erziehungswissenschaft und Psychologie der Universität Siegen. Oft inszenierten und verkauften sich Gangsta-Rapper selbst als TäterInnen und werteten dabei auch bestimmte Gruppen ab. So sind etwa viele Texte explizit frauenfeindlich oder richten sich gegen homosexuelle Menschen. 

Gangsta-Rapper gehören zu den meistgestreamten KünstlerInnen

„Trotz – oder auch wegen – dieser Grenzüberschreitungen ist Gangsta-Rap in Deutschland außerordentlich beliebt“, sagt Dollinger. Zu den meistgestreamten KünstlerInnen in Deutschland beim Musikanbieter Spotify gehörten 2020 beispielsweise Capital Bra, Samra, Kontra K, Gzuz, Bonez MC und RAF Camora. Allesamt Gangsta-Rapper. Das Genre ist dabei insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen beliebt. Was aber macht es mit jungen Menschen, wenn sie Musik hören, die Tabubrüche inszeniert und Kriminalität glorifiziert? Um zu erforschen, wie Jugendliche Gangsta-Rap hören und was er ihnen bedeutet, ist Dollinger nun an einem neuen Forschungsprojekt beteiligt. Dieses wird im Sonderforschungsbereich „Transformation des Populären“ von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Die erste Projektphase läuft von 2021 bis 2024. 

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Forschungslücke: Kaum jemand fragt die Jugendlichen

„Wir untersuchen, wie Jugendliche die Musik nutzen“, sagt Dollinger. „Was machen sie mit Kriminalität und Tabubrüchen? Welche Rolle spielt beispielsweise Sexismus? Welche Bedeutung hat die Musik bei der Identitätsbildung und der Frage der Zugehörigkeit zu einer Gruppe?“

Laut Dollinger wird zu diesem Thema meist über die Jugendlichen und die Musik gesprochen, aber nur selten mit ihnen. „Deshalb gibt es hier eine riesige Forschungslücke.“ Somit hat das Projekt das Ziel, von den Jugendlichen zu erfahren, was sie bewegt, und in ihr Erleben einzutauchen. Geplant ist, dass verschiedene Forschende dafür über längere Zeit Jugendgruppen begleiten.
 
Aber haben Jugendliche überhaupt Lust, mit Erwachsenen über Musik zu sprechen und sie in ihre Gruppe aufzunehmen? „Wir werten nicht, sondern bleiben neutral, das erleichtert das Vorgehen“, sagt Dollinger. Die Forschenden sind bei einer sogenannten teilnehmenden Beobachtung eng in die jeweilige Gruppe eingebunden. „Das ist eine besonders aufwändige Methode der Sozialforschung, aber sie scheint uns für das Projekt am besten geeignet zu sein.“ Die Forschenden planen ihre Beobachtungen in mehreren Großstädten. 

Manche Rapper sind selbst kriminell, andere tun nur so

Auf die Frage, wie die Musik mit dem Handeln von jungen Menschen zusammenhängt, wurde Dollinger bereits in einem vorherigen Projekt aufmerksam. Dazu hat der Sozialpädagoge in der Vergangenheit Strafverfahren von Jugendlichen analysiert. „Es gab in Hauptverhandlungen immer wieder einmal Hinweise auf Gangsta-Rapper und bestimmte Songs“, sagt er.

Ob die Musik allerdings tatsächlich die Bereitschaft von Jugendlichen erhöht, Delikte zu begehen, ist höchst umstritten – und ein Stück vergleichbar mit der schon lange geführten Debatte über den unterstellten Einfluss bestimmter Computerspiele auf Gewalttaten. „Es gibt natürlich unter manchen Jugendlichen, die kriminell werden, Präferenzen für Gangsta-Rap“, sagt Prof. Dollinger. „Ob die Musik aber die Ursache für kriminelle Handlungen ist, ist völlig offen.“

Das liegt auch daran, dass kaum erforscht ist, wie Jugendliche mit der Musik umgehen. „Bei manchen Jugendlichen ist es sicher so, dass die Rapper als Vorbilder gelten und sie etwa auch deren Einstellungen gegenüber Frauen oder zur Kriminalität übernehmen“, sagt der Wissenschaftler. „Andere sehen die Musik als Inszenierung und vertreten für sich selbst ganz andere Werte.“ 

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„Musik mit diskriminierenden Texten zu hören ist meiner Ansicht nach zunächst einmal unabhängig davon, selbst zu diskriminieren“, sagt der Forscher. Das gilt auch für die Musiker: „Manche geben sich selbst ein mieses Image und sind in Wirklichkeit Familienväter ohne Eintrag im Bundeszentralregister“, sagt Dollinger. Bei anderen aber stimmt das Image: Sie pflegen beispielsweise die Nähe zu Gangs und Clans oder haben schon im Gefängnis gesessen. 

Dass es sinnvoll ist, nicht nur über bestimmte Gruppen zu sprechen, sondern vor allem mit ihnen, erlebt Dollinger auch am Graduiertenkolleg „Folgen Sozialer Hilfen“ der Universität Siegen, das es seit April 2020 gibt und dessen Sprecher er ist. Dort erforschen DoktorandInnen aus Soziologie, Sozialpädagogik und Psychologie im Feld, wie es eigentlich den Menschen geht, an die sich diese Hilfen richten.


Mehr Informationen zum Sonderforschungsbereich „Transformationen des Populären“ der Universität Siegen
Was ist eigentlich populär? Ist es das, was viele mögen und was in Rankings und Charts gemessen wird? Oder spielen andere Aspekte eine Rolle? Und wie verändert das Populäre die Gesellschaft? Fragen wie diesen widmen sich im Sonderforschungsbereich (SFB) „Transformation des Populären“ der Universität Siegen WissenschaftlerInnen aus zwölf Fachgebieten in 18 Teilprojekten. Dabei geht es zum Beispiel um Bewertungen des Populären wie auch um Strategien der Verbreitung oder um Kommunikationsmechanismen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert den SFB mit zehn Millionen Euro. https://popkultur.uni-siegen.de/sfb1472/ 

Text: Maria Berentzen
Fotos: Sascha Hüttenhain Photography

Dieser Text erschien zuerst in future - Das Forschungsmagazin der Universität Siegen

 
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