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Die Reise in die Vergangenheit: Geschichtstourismus im 19. und 20. Jahrhundert

Tagung an der Universität Siegen

6.-8. November 2014

Veranstalterinnen: Univ.-Prof. Dr. Angela Schwarz, Dr. des. Daniela Fleiß


Tagungsbericht

Quelle: Tim Bernshausen/Jan Psternak: Tagungsbericht: "Journeys into the Past: History as a tourist attraction in the 19th and 20th Centuries" an der Universität Siegen, 6. bis 8. November 2014, in: H-Soz-u-Kult, Tagungsberichte, 07.03.2015, URL: https://www.hsozkult.de/searching/id/tagungsberichte-5857

Historische Stätten waren schon immer ein beliebtes Reiseziel. Speziell mit Beginn des Tourismus moderner Prägung im 19. und 20. Jahrhundert besuchten immer mehr Menschen solche Orte, denen eine historische Bedeutung zugeschrieben wird. Dabei nahmen die Reisenden nicht selten große Anstrengungen auf sich, um ans Ziel zu gelangen. Es kam nicht einmal darauf an, ob zum Zeitpunkt des Besuchs tatsächlich noch Spuren der Vergangenheit vorhanden waren oder ob es jemals solche an dem Ort gegeben hatte. Touristinnen und Touristen, die sich auf eine "Reise in die Vergangenheit" begaben, genügte es vielfach, die entsprechenden Örtlichkeiten ohne sichtbare Anzeichen einer Vergangenheit zu sehen, einfach nur dort zu sein. Bisweilen konnte es gar schon ausreichen, über die Reisen anderer zu lesen.

Die internationale und interdisziplinäre Tagung "Journeys into the past: History as a tourist attraction in the 19th and 20th Centuries" widmete sich diesem Phänomen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, obschon der geschichtswissenschaftlichen Perspektive eine wesentliche Rolle zugedacht war. Es interessierten nicht nur Gründe für und Auswirkungen von Geschichtstourismus in verschiedenen nationalen und internationalen Kontexten während des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern ebenso die Praktiken seiner Ausübung und seine gesellschaftlichen Funktionen. Dabei grenzte sich die Tagung konzeptionell bewusst von der Annahme ab, Geschichtstourismus sei als Phänomen erst in jüngster Zeit aufgetreten. Die auffälligen Gemeinsamkeiten von touristischer und populärgeschichtlicher Wahrnehmung, wie sie bereits in zahlreichen Einzelstudien vor allem für das 19. Jahrhundert nachgewiesen wurden, legen die Vermutung nahe, dass es noch weitere Gemeinsamkeiten zwischen beiden Forschungsfeldern gibt, deren konsequente Untersuchung bislang aber ein Desiderat bildete. Beiden Bereichen ist gemein, dass sie das Zusammentreffen mit etwas Fremdem, oftmals Exotischem beinhalten, was letztlich aber nur der Befriedigung vielfältiger Bedürfnisse auf Seiten derer dient, die die 'Reise' in die räumliche oder eben zeitliche Ferne unternehmen. Ebenso wesentlich wie Motive und Bedürfnisse war – und ist bis heute – im Geschichtstourismus die unablässig betonte Echtheit dessen, was als Geschichte erschien. Der komplexe Prozess von Entstehung bzw. Konstruktion und Aufrechterhaltung der Echtheitsfiktion, einer beständigen Authentifizierung von Vergangenheit an einem touristischen Ort stand daher als charakteristisches Element von Geschichtstourismus nicht zufällig im Mittelpunkt der einzelnen Beiträge zu dieser Tagung. Konstruktion, Bewahrung und Vermittlung sind ohne Medien nicht denkbar, so dass die mediale Inszenierung von Geschichte ihrerseits eine prominente Rolle an den verschiedenen Orten des Tagungsitinerars spielte.

Einleitend kennzeichnete ANGELA SCHWARZ (Siegen) die zentralen Elemente des Prozesses einer Popularisierung von Geschichte, die notwendig sind bei der Umwandlung historischer Orte in ein touristisches Erlebnis. Sie betonte dabei die wesentliche Rolle eben dieser konkreten Orte, die auf verschiedene Arten mit einer historischen Bedeutung aufgeladen werden und dann als eine Stätte gelten, die für die Besucherinnen und Besucher als Bindeglied zwischen Vergangenheit und der eigenen Gegenwart fungiert. Darüber hinaus müsse dieser Ort eine zweite wichtige Eigenschaft besitzen: eine Aura der historischen Authentizität. Nur so könne die Historizität des Ortes von der überwiegenden Zahl der Touristinnen und Touristen akzeptiert und so als eine Stätte des Geschichtstourismus im Grunde neu erschaffen oder eben konstruiert werden. Schwarz hob in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung der Medien hervor, insbesondere deren Fähigkeit, einerseits historische Bedeutungen zu modifizieren, andererseits touristisches Interesse zu erzeugen.

JEROME DE GROOT (Manchester) setzte die konzeptionellen Überlegungen zu diesem Phänomen fort und betrachtete die touristische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Teil einer Beziehung, in der die jeweils zeitgenössische Gegenwart über die – vielfach als unmodern empfundene – Vergangenheit dominiert. Mit Blick auf genealogische Untersuchungen, die sich im heutigen Informationszeitalter mit anderen Ressourcen und vor allem einer deutlich gesteigerten Intensität gegenüber der Zeit vor der digitalen Revolution durchführen und kommerzialisieren lassen, argumentierte er entgegen David Lowenthals These von der Vergangenheit als fremdem Land. Seiner Ansicht nach sei diese eben kein fremdartiges Reiseziel, sondern etwas einst Reales, das in eine fiktive Darstellung übersetzt worden sei, um denjenigen, die diese Umsetzungen vornehmen, eine Möglichkeit zu geben, Gegenwart und Zukunft ihrer eigenen Zeit zu beeinflussen. In Fortsetzung dieser grundlegenden Gedanken zeigte IAN MCKAY (Kingston/Ontario) in seinem Vortrag, dass selbst die 'Erinnerung' an etwas rein fiktives großen Einfluss auf die touristische Inszenierung einer Region haben kann. Als Fallstudie diente ihm die von dem amerikanischen Schriftsteller Henry Wadsworth Longfellow erdachte Geschichte der Evangeline, einem akadischen Mädchen, deren Handlung zur Zeit der Vertreibung ihres Volkes aus Novia Scotia in der Mitte des 18. Jahrhunderts angesiedelt ist. Longfellows Gedicht aus dem 19. Jahrhundert wurde rasch zu einem Bestseller, vor allem in den USA. Die Popularität der erfundenen Evangeline löste in der Folge einen Massentourismus nach Novia Scotia aus. Die Touristinnen und Touristen erhofften dort die reale Welt der Protagonistin erkunden zu können, obwohl sich die wirkliche Landschaft deutlich vom romantischen Ideal im Gedicht unterschied. Nach und nach übernahmen zahlreiche Einheimische im Zuge einer touristischen Vermarktung der Region als 'Heimat der Evangeline' die konstruierten und bereits weit verbreiteten Geschichtsbilder als eigene, vermeintlich authentische historische Erfahrung. Anhand dieses Musters lassen sich grundlegende Mechanismen der Konstruktion populärer Geschichtsbilder aus der Fiktion heraus ausmachen, die über den Tourismus weiter verbreitet und noch verstärkt werden.

Das Gebäude, in dem von 1414 bis 1418 das Konzil von Konstanz abgehalten worden war, stand im Mittelpunkt des Beitrags von CHRISTOPH LUZI (Luzern). Die historische Bedeutung des Konzilsgebäudes lag vor allem darin, dass es der einzige Ort einer Papstwahl nördlich der Alpen war und bis heute geblieben ist. Es wurde seit dem Aufkommen des Massentourismus moderner Prägung ab etwa 1800 als wichtige touristische Attraktion der Stadt Konstanz vermarktet. Ergänzt wurde diese Vermarktung von Konzil und Papstwahl im Jahr 1993, als man die Statue "Imperia" im Hafen errichtete und damit eine zusätzliche Sehenswürdigkeit als Erinnerung an diesen speziellen Aspekt Konstanzer Geschichte schuf. Indem er vergangene und gegenwärtige Konstruktionen des historischen Ereignisses miteinander verglich, verdeutliche Luzi den doppelten Konstruktionscharakter dieser Form der Geschichtsdarstellung. Die touristische Inszenierung erfolgte durch die Übertragung der älteren touristischen Konstruktion auf eine neue und deutlich jüngere Ausprägung derselben. Zugleich stellte er so die wichtigsten Formen der Authentifizierung im Prozess der Vermittlung der Geschichte des Konzils heraus, so zum Beispiel die Erhaltung der historischen Bausubstanz des Konzilsgebäudes. Dass nicht nur katholische Orte Geschichtstourismus erzeugen können, zeigte SILVIO REICHELT (Heidelberg) für lutherische Stätten, die trotz der sonst eher unüblichen Bezugnahme auf Örtlichkeiten im protestantischen Glauben in touristische Attraktionen umgewandelt wurden. Diese boten und bieten bis heute Protestantinnen und Protestanten einen 'erfahrbaren' Zugang zur Zeit Luthers und zu den damals aktiven Personen der Reformation, der durch eine rein intellektuelle Beschäftigung mit dem Thema verborgen geblieben wäre. Aufgrund der religiösen Motivation dieser Reisen, erinnern diese in gewisser Weise an katholische Pilgerreisen, die Orte ließen sich als protestantisches Gegenstück zu Wallfahrtsorten betrachten.

SYLVIA KESPER-BIERMANN eröffnete die Sektion über die zunehmend populärer werdende dunkle Seite des Tourismus mit einem Vortrag über Foltermuseen. Mit Blick auf mehrere Einrichtungen dieser Art in verschiedenen europäischen Ländern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts führte sie aus, dass die Historisierung und Zurschaustellung der frühmodernen Folterwerkzeuge als Symbol einer vermeintlich überwundenen dunklen Vergangenheit Europas diente. Als Ausdruck von Modernität wurde die Überwindung der Folter oftmals in den Kontext nationaler Narrative eingebettet, um die Verurteilung der Folter als universelle rechtliche und moralische Norm zu etablieren. An einen anderen dunklen Ort der Erinnerung an die Vergangenheit führte der Beitrag von DANIELA FLEIß (Siegen). Sie analysierte Friedhofsbesuche als Form einer säkularisierten und von der traditionellen Memorialkultur befreiten touristischen Erfahrung. Unter den zahlreichen unterschiedlichen Motiven und Funktionen, die eine solche Reise haben konnte, betonte sie das der Bildung bzw. Festigung einer eigenen Identität, ein zentrales Anliegen vor allem des Bürgertums beim Besuch von Grabstätten im 19. Jahrhundert. Friedhofstourismus bot nicht nur Orientierung in einer sich stets wandelnden modernen Welt, sondern zugleich Vorbilder, die zwar in der Vergangenheit verwurzelt, aber dennoch Teil der Gegenwart waren und deren Grabstätten als Mittler zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit gesehen werden konnten. Eine besondere Form des "dunklen Tourismus" wurde von AXEL DRECOLL (München) vorgestellt. Sein Vortrag beschäftigte sich mit der Region Obersalzberg, die einerseits als Ort zahlreicher Privatferienhäuser von Führungspersonen des Nationalsozialismus touristisch vermarktet wurde und immer noch wird, andererseits aber gleichfalls als Bildungsstätte fungiert, die Einsichten in die Machtstrukturen des Nationalsozialismus erforscht und diese den Besucherinnen und Besuchern vermitteln wollte und will. Die unterschiedlichen und manchmal sogar einander widersprechenden touristischen Nutzungen des historischen Ortes 'Obersalzberg' offenbarten laut Drecoll verschiedene Ansätze und Entwicklungen der Geschichtsvermittlung, die nicht nur in Bezug auf den Obersalzberg im Speziellen, sondern ebenso hinsichtlich der allgemeinen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit existieren.

Die Vorträge am zweiten Konferenztag widmeten sich dem Zusammenhang von Geschichtstourismus und nationaler Identität. ROBERT LUKENDA (Mainz/Erlangen) beschäftigte sich mit dem italienischen Inlandstourismus im 19. Jahrhundert, der sich, begünstigt durch neue Formen der Mobilität, zu einem "patriotischen Tourismus" gewandelt habe. Diese neue Form des Reisens, so betonte Lukenda, diente vor der Schaffung der staatlichen Einheit Italiens 1861 als eine symbolische Darstellung der nationalen Einheit, die innere geographische und politische Grenzen überwand. Dieses Bild sei dabei nicht allein durch persönliches Reisen verbreitet worden, sondern ebenso durch zahlreiche Reiseberichte, die über Bücher und Zeitschriften eine starke Verbreitung fanden. Bücher spielten auch im Vortrag von HANNA KOZIŃSKA-WITT (Rostock) eine zentrale Rolle, konnten doch Reiseführer über Krakau, so das gewählte Beispiel, als Mittel im Prozess der nationalen Identitätsbildung in Polen genutzt werden. Nach der Auflösung des polnischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts erklärte die nationale Bewegung im 19. Jahrhundert die Stadt Krakau zur "geistigen Hauptstadt" eines zukünftigen Polens. Damit erhoben die nationalen polnischen Kräfte zugleich den touristischen Besuch der Stadt zur nationalen Pflicht. Kozińska-Witt zeigte auf, welche 'Geschichte(n)' im Einzelnen in den Reiseführern dem polnischen Publikum vermittelt und welche Informationen offenbar gezielt ausgelassen wurden. Sie erläuterte das Problem einer nationalen Identitätskonstruktion als Auswahlkriterium bei der Themenwahl anhand der Darstellung des jüdischen Stadtviertels in den Reiseführern. Noch weiter gen Osten führte die Reise von KATHARINA HAVERKAMP (Jena), die den sowjetischen Inlandstourismus in den 1960er und 1970er Jahren als Teil eines besonderen Identitätsbildungsprozesses innerhalb des Sowjetstaates betrachtete. Ausgelöst von Protesten der russischen Nationalbewegung und aus Kreisen der Intellektuellen nach der Zerstörung von religiösen Stätten in der Ära Chruschtschow, entstanden Mitte der sechziger Jahre gesamtgesellschaftliche Forderungen nach dem Erhalt der vor-sowjetischen Denkmäler sowie ihrer touristischen Nutzung. Haverkamp argumentierte, dass der anschließend aufkommende Massentourismus zu Stätten, die zu Erinnerungsorten vorkommunistischer russischer Geschichte erhoben wurden, als eine Flucht aus dem Alltag und vor dem scheinbar endlosen Warten auf eine bessere kommunistische Zukunft in eine ehrenvolle und erinnerungswerte Vergangenheit angesehen werden könne. Mit einemvergleichbaren Phänomen beschäftigte sich ANTONIO BARRENTO (Lissabon) in seiner Analyse der Auswirkungen, die eine Touristifizierung revolutionärer Stätten in der Republik China zwischen 1912 bis 1949 hervorbrachte. Die damals neu errichteten revolutionären Denkmäler wurden von der eigenen Bevölkerung weit weniger als Attraktionen wahrgenommen, als die politischen Führer der jungen Republik es vorgesehen hatten. Das lag nicht zuletzt daran, dass sich die traditionellen Stätten, wie etwa die große Mauer, die als Relikte einer ruhmreichen, imperialen, ja exotisch erscheinenden Vergangenheit galten, weiterhin großer Beliebtheit erfreuten. Dass Menschen nicht unbedingt selbst reisen mussten, um eine touristische Erfahrung machen zu können, zeigte TOBIAS SCHEIDT (Siegen) mit seinem Vergleich britischer und deutscher illustrierter Zeitschriften. Sie ermöglichten einen solchen 'Sessel-Tourismus' bereits im 19. Jahrhundert und damit lange vor der Erfindung des Kinos, des Fernsehens oder gar des Internets. Die Zeitschriften hätten mit dieser 'Lesereise' das Phänomen des Geschichtstourismus medialisiert und so weiter etabliert und befördert. Am Beispiel des deutschen Schriftstellers Julius Rodenberg, der in zahlreichen Artikeln in der britischen Presse über seine Reisen nach England schrieb, arbeitete Scheidt den transnationalen Charakter der Reiseberichte heraus, sowohl in Bezug auf die Kanonisierung von touristischen Zielen und Praktiken, als auch hinsichtlich der Popularisierung von Geschichte.

Wie die Frage, wieviel Tourismus als Ortswechsel Geschichtstourismus erfordert, ist ebenso die Frage legitim, wieviel Geschichte er eigentlich braucht. Tatsächlich existieren nämlich 'historische Orte' unter den Zielen dieser Art des Reisens, an denen die damit verbundenen Ereignisse möglicherweise nie stattgefunden haben. Einen solchen Ort untersuchte SILVIA HESS (Luzern) in ihrer Analyse der touristischen Nutzung jenes Gebietes, in dem die mittelalterliche Schlacht von Morgarten ausgetragen worden sein soll. Die Schweizer Nationalgeschichtsschreibung propagierte schon im 19. Jahrhundert die Schlacht als den ersten Kampf für die Unabhängigkeit der Schweizer von der Habsburger Herrschaft und lokalisierte den vermeintlichen Schlachtenort ganz genau. Die Landschaft, die auf Bildern, in Schulbüchern und anderen Medien gezeigt wurde, unterschied sich allerdings wesentlich vom tatsächlichen Erscheinungsbild des Ortes in der Entstehungszeit der Bildzeugnisse. Hess erläuterte, dass sich die im Laufe der Überlieferung immer weiter veränderten Geschichtsbilder über die Schlacht und die touristischen Sehenswürdigkeiten des Ortes 'Morgarten' einander angeglichen hätten, um so trotz unzureichender Quellenlage die bestehenden Lücken der Geschichte der Schlacht von Morgarten schließen zu können. TIMO SAALMANN (Bamberg) untersuchte in seinem Beitrag die Wechselwirkungen von Tourismus und Archäologie. Er führte vor, dass und wie in Franken im Laufe der Geschichte keltische Stätten zwecks Bildung politischer Identitäten verwendet worden sind. Saalmann zeigte beispielhaft, wie König Ludwig I. von Bayern diese archäologischen Stätten als Mittel zur Integration neuer Regionen in sein Reich nutzte. Der Prozess der Umdeutung solcher Fundorte hält bis in die Gegenwart an. So dienten die Rekonstruktionen der keltischen Funde seit den 1980er Jahren dazu, das Bild von der keltischen Kultur als vormodernes Modell einer europäischen Einheit zu verbreiten, ein ganz anders gelagerter Fall von Integration und Bildung einer – gemeinsamen – Identität, in dem Europa an die Stelle der Nation getreten ist. ADAM ROSENBAUM (Grand Junction, CO) widmete sich der Tourismusindustrie im Nachkriegsbayern. Die offizielle Reisewerbung habe ab den späten 1940er und frühen 1950er Jahren einen klaren Schwerpunkt auf den provinziellen Charakter der Region gelegt. Versöhnung zwischen besiegter deutscher Zivilbevölkerung und amerikanischen Besatzungstruppen bzw. weiteren amerikanischen Touristinnen und Touristen sei das Ziel gewesen, gleichzeitig aber ebenso eine Ablenkung von der nationalsozialistischen Vergangenheit Bayerns. Obwohl sie durchaus diese Angebote ländlicher Idylle der regionalen Tourismusbranche annahmen, waren viele amerikanische Besucherinnen und Besucher Bayerns weiterhin an Stätten wie dem ehemaligen Konzentrationslager in Dachau oder der Region Obersalzberg interessiert, wo der Nationalsozialismus besonders deutliche Spuren hinterlassen hatte. Auf diese Weise entwickelte sich im Nachkriegsbayern in der Folge eine hinsichtlich der politischen Botschaften hybride touristische Kultur.

Der dritte Tag der Konferenz stand im Zeichen von Vergangenheit als einer romantischen bzw. romantisierten Touristenattraktion. EKKEHARD SCHÖNHERR (Jena) eröffnete dieses Themenfeld mit der Wahrnehmung von Mallorca in den Reisetagebüchern des spanischen Historikers Juan Cortada, der die Mittelmeerinsel im 19. Jahrhundert bereiste. Cortada scheiterte dabei mit seinem Vorhaben, den Weg, den die christlichen Eroberer der Insel im Mittelalter genommen hatten, nachzureisen, ein Ergebnis, das nach Schönherr symptomatisch für den Tourismus auf Mallorca in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Er argumentierte weiter, dass trotz eines erklärten Interesses der Besucherinnen und Besucher an mallorquinischer Geschichte, historische Stätten de facto nur dann besucht wurden, wenn sie landschaftlich reizvoll waren und in dem Sinne ein 'malerisches' Reiseerlebnis boten. ANGELA BERLIS (Bern) rückte noch einmal religiöse Aspekte des Geschichtstourismus in den Blickpunkt, konkret am Beispiel der vermeintlichen oder tatsächlich empfundenen Romantik einer Klosterruine. Ausgehend von dem Beispiel der Überreste des Klosters Port Royal in Frankreich und seiner hochgradig romantisierten Beschreibungen in den Reiseberichten der britischen Autorin Mary Anne Schimmelpennick hob Berlis hervor, dass Geschichtstourismus stets ethische und religiöse Bedeutungen implizieren könne, insbesondere, wenn die Stätten wie im Fall von Port Royal auf eine Geschichte von Konflikt und Zerstörung verwiesen. Sie sprach sich dabei für eine Lockerung der strengen Trennung der Kategorien 'Pilgerreise' und 'Reise' aus. Den französischen Diskurs über Reisen in die französische Besatzungszone Deutschlands untersuchte DREW FLANAGAN (Waltham, MA) für die Nachkriegszeit der Jahre 1945 bis 1955, als nach der Wiederherstellung der Souveränität Deutschlands das seit 1945 geltende Besatzungsstatut aufgehoben wurde. Er belegte an vielfältigen Beispielen, wie sehr sich die Erfahrungen der langfristigen Rivalität zwischen beiden Nationen und die militärische Besetzung des Südwestens Deutschlands auf die touristische Erfahrung französischer Militärs und Zivilisten in dieser Region im genannten Jahrzehnt auswirkten. Flanagan stellte heraus, dass es das Hauptanliegen der französischen Reisenden gewesen sei, ein besseres Verständnis für Deutschlands und Frankreichs gemeinsame Vergangenheit zu gewinnen und gleichzeitig die Ängste vor Deutschland und den Deutschen zu überwinden. ALEXANDRE BONAFOS (Columbia, SC) analysierte im letzten thematischen Vortrag Inlandsreisen im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts. Anhand der Reiseberichte ausgewählter romantischer Schriftsteller führte er aus, wie das Reisen an sich durch den Wunsch der Reisenden nach einer persönlichen Erfahrung mit der Vergangenheit begünstigt worden sei. Bonafos betonte, wie sehr diese frühen touristischen Praktiken von der Suche nach der Geschichte beeinflusst gewesen seien. Dies habe im Laufe des weiteren 19. Jahrhunderts stark mit dazu beigetragen, dass die französische Nation ihr Frankreich als ein Land voller Sehenswürdigkeiten von historischer Bedeutung konstruieren konnte.

Die zahlreichen "Reisen in die Vergangenheit", die in Siegen vorgestellt und konstruktiv diskutiert wurden, offenbarten für die letzten beiden Jahrhunderte eine Vielzahl von Reisenden mit ebenso vielen verschiedenen Motiven, Erwartungen und medialen Konzepten. Dabei kam als erstem Aspekt der Authentizität eines geschichtstouristischen Ortes eine wesentliche Bedeutung zu. Wenn diese nicht ohnehin in Form eines eindeutigen Gebäudes oder Objektes vorhanden war, konnte sie in vielfältiger Weise neu oder wieder erzeugt werden. Gerade die Vorträge über Nation und Identitätsbildung im west- und mitteleuropäischen Kontext zeigten auf, dass touristische Infrastruktur an 'historischen Orten' geschaffen wurde, an denen bis dato wenige bis gar keine Überreste eines Ereignisses oder einer Person zu sehen waren. Erinnerungskonstruktionen ließen sich auf neue Orte oder Objekte übertragen oder sie wurden jenseits des eigentlichen Ortes und unabhängig von ihm erschaffen, so zum Beispiel in Form von literarischer Fiktion oder Reiseliteratur. Eine ebenso große Bedeutung besaß als zweites Element die mediale Inszenierung eines touristischen Ortes. Medien bewarben etwa bestimmte Plätze, wiesen ihnen touristische Attribute zu, sprachen bestimmte Bilder in den Köpfen einer Zielgruppe an. Reiseführer, Erzählungen, Zeitschriften: Verschiedene Vorträge griffen sektionsübergreifend einzelne Medienformate auf, die wiederum alle in unterschiedlicher Form dazu beitrugen, dass sich Touristinnen und Touristen sehr genaue Vorstellungen eines Reiseziels machen konnten. Urheber konnten die jeweiligen Regionen selbst sein, die sich in einer bestimmten Form touristisch vermarkten wollten. Genauso wurden von den Medien aber auch Fremdbilder auf die Orte projiziert, die möglicherweise ganz andere Vorstellungen hervorriefen. Ganz im Sinne des 'touristischen Blicks' erzeugten Medien nicht nur vor einer Reise bereits klare Erwartungen, sie konnten diese sogar gleich selbst mit entsprechenden 'Lesereisen' vermeintlich nachvollziehbar machen. Eng mit der medialen Inszenierung verbunden war als dritter Faktor der Erlebnischarakter, der den Reisezielen vielfach eigen war. Geschichtstourismus bedingte stets eine gewisse Neugier bei den Reisenden, galt es doch, eine fremdartige, weil vergangene Welt zu entdecken und scheinbar zu erleben. Vor allem die Beiträge der Sektion über Geschichtstourismus und nationale Identitätsbildung machten deutlich, dass das Erleben von Geschichte oftmals in einen Prozess der Konstruktion oder Festigung kollektiver Identität eingebettet war. Damit wurde das Erlebenwollen zu einer wesentlichen Strategie der Aneignung von Geschichte, die im Tourismus eine eigene Form erhält, maßgeblich mit geprägt durch dessen Ausgestaltung in den Medien.

Die auf der Tagung vorgestellten und diskutierten "Reisen in die Vergangenheit" könnten dazu beizutragen, den immer noch nicht klar definierten Begriff des 'Geschichtstourismus' weiter zu schärfen. Außerdem machten sie die außerordentliche Qualität der geschichtstouristischen Erfahrung als historische Quelle deutlich, in dem sie eine Kategorisierung von Zielen und Formen der touristischen Reise vornahmen und das Verhältnis der jüngeren und der schon weiter zurück liegenden Vergangenheit eingehend beleuchteten. Bildung, Unterhaltung, Wunsch nach 'echtem Erleben', Konstruktion von Identitäten erschienen auf der Tagung als einige der Motive, die beantworten können, warum Menschen in den vergangenen zwei Jahrhunderten gerade Geschichte touristisch er-fahren und er-leben wollten – und dies heute immer noch wollen. Die Erforschung des Komplexes der Motive muss selbstverständlich noch intensiviert werden, auch dafür hat die Tagung Wege eröffnet und erste Schritte in diese Richtung unternommen. Die weitere Erforschung des Geschichtstourismus wird dabei stark von der Verfügbarkeit von Aussagen jener Touristinnen und Touristen abhängen, die historische Stätten in der Vergangenheit bereisten. Von daher ist es wesentlich, weiter daran zu arbeiten, dass genau solche Ego-Dokumente oder Reiseberichte in diversen Medien als historische Quellen ebenso erschlossen werden, wie politische und wirtschaftliche Dokumente früherer Tage. Sie zeigen gleichermaßen Geschichte und Geschichtskonsum – beides offensichtlich eine Reise wert.

Tim Bernshausen und Jan Pasternak
Historisches Seminar, Universität Siegen

 
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