Prof. Dr. Simon Forstmeier im Interview der Siegener Zeitung
Artikel der Siegener Zeitung vom 12. Juli 2024
Von Andreas Goebel
SIEGEN. Für israelische Wissenschaftler hat eine ernüchternde Periode begonnen, und zwar weltweit. Sie werden, so berichtet die Süddeutsche Zeitung, aus Kongressen ausgeladen, wie jetzt der Sozialpsychologe Gilad Hirschberger (Reichmann-Universität in Herzliya).
Der renommierte Trauma-Experte sollte die Konferenz im Oktober in Oslo eigentlich mit seinem Vortrag eröffnen. Dann kam die Mail. Man bedaure, die Einladung zurückziehen zu müssen, hieß es. Der norwegische Wissenschaftler, mit dem er seit vielen Jahren in engem Kontakt stand, schrieb ihm, er habe sich dem Beschluss des Organisationskomitees beugen müssen.
Man wolle eine Zusammenarbeit mit Repräsentanten von Ländern vermeiden, die sich im Krieg befinden.
So geht es vielen. Die israelische Zeitung Haaretz beleuchtete kürzlich 60 solcher Fälle, angefangen von „Ghosting" (sich einfach nicht mehr melden) über Freundschaftsaufkündigungen und die Auflösung von Kooperationen bis hin zum Entfernen von Namen israelischer Forscher aus geplanten Veröffentlichungen.
Prof. Dr. Simon Forstmeier von der Universität Siegen reist im Herbst zu einem Kongress nach Jerusalem (wenn das Kriegsgeschehen es zulässt). Auch er ist Trauma-Experte, und seine Meinung ist in Israel gefragt. Forstmeiers Forschungs-schwerpunkt ist die psychische Gesundheit im höheren Lebensalter. Er und sein Team haben auch Therapien entwickelt gegen psychische Erkrankungen alterer
Menschen. Dass es unter älteren Menschen vermehrt zu Depressionen kommen kann, ist
lange nicht so wahrgenommen worden. Auch schlecht verarbeitete traumatische Erlebnisse kommen im letzten Lebensabschnitt mitunter wieder hoch. „Wir schauen uns in der Therapie das gelebte Leben an, und das tun Ältere ja sowieso", sagt er und bringt es auf eine Formel. „Wir wollen da helfen."
Die Israel-Verbindung reicht zehn Jahre zurück. Damals hielt er einen Vortrag zum Thema Trauma-Therapie. Anschließend stellte sich ihm Martin Auerbach vor, ein Israeli mit österreichischen Wurzeln, der die Amcha-Organisation in Israelleitete, die etliche Begegnungszentren und Therapiezen-tren für Holocaust-Opfer betreibt. Auerbach hatte Forstmeiers Ausführungen interessiert verfolgt und machte ihm einen verblüffenden Vorschlag: „Ihre Forschung könnten Sie bei uns machen." Es sei ein langer Weg gewesen bis zur Genehmigung des Forschungsprojekts, berichtet der 51-Jährige, der seit 2014 in Siegen lehrt. Endlich flossen Gelder für den Zeitraum 2017 bis 2022.
Forstmeier konnte eine Doktorandin vor Ort einsetzen, war immer wieder für Supervisionen in Israel und trainierte israelische Theraneuten. Noch heute ist Simon Forstmeier beeindruckt von der Unvoreingenommenheit und Offenheit seiner Kollegen. „Es war für alle Beteiligten eine berührende Erfahrung, dass heute israelische Psychotherapeuten von einem Deutschen lernen möchten, wie sie ihre Patienten besser therapieren, die damals von Deutschen so viel Leid erleben mussten." Auch er selbst führt Gespräche mit Holocaust-Opfern. Die Trauma-Therapie, erklärt er den Ansatz, setze beim schlimmsten Erlebnis an, das
dem bzw. der Betreffenden widerfahren sei. Manche Patienten seien auch mehrfach traumatisiert. Ihm sei das nicht in den Kleidern hängengeblieben, erzählt er. „Auch wenn ich in den Sitzungen professionell geblieben bin." Abends beim Spaziergang allein durch die Straßen von Tel Aviv habe er seinen Gefühlen freien Lauf gelassen.
Forstmeier und seine Mitarbeiter stellten in Zusammenarbeit mit den israelischen Kollegen fest, dass sich auch Menschen, die monströse Erfahrungen machen mussten, noch erstaunlich gut therapieren lassen, obwohl die Betroffenen zum Zeitpunkt der Studie im Mittel 82 Jahre alt waren und mehrtach Traumatisierungen erlebt hatten.
Gerade das höhere Alter ist eine Phase, in der Menschen im Geiste an Orte und Begebenheiten zurückkehren, die für sie prägend gewesen sind. „Wir erinnern uns im Alter leichter an Sachen, auch an Sachen, die wir jahrzehntelang meinten im Griff zu haben." Aber: „Wer alt ist, hat viel Belastendes erlebt, hat aber auch die Erfahrung gemacht, dass sich Probleme lösen lassen." Gute Therapie kann helfen, die letzten Jahre gut zu leben. Dabei hat der Überfall der Hamas am 7. Oktober, das gibt Simon Forstmeier zu bedenken, vieles auf den Kopf gestellt und schreckliche Erinnerungen auch bei denen getriggert, die ihn selbst nicht
mitbekommen hätten.
Und der akademische Boykott? „Israelische Wissenschaftler sind nicht verantwortlich für die Politik und nach meiner Wahrnehmung auch oft kritisch gegenüber der aktuellen Regierung eingestellt, sagt der Psychologe und ergänzt: „Man bestraft damit die Falschen. Gerade wenn Konflikte da sind, ist Dialog angesagt. Wissenschaftliche Kontakte bilden einen wunderbaren Boden auf dem Weg zum Frieden."
Damit steht Simon Forstmeier nicht allein. 10.000 Wissenschaftler aus aller Welt naben einen Appell unterzeichnet, der sich gegen den akademischen Boykott israelischer Wissenschfatler wendet. Die offene und globale akademische Gemeinschaft sei in schwierigen Zeiten wie diesen unerlässlich, sagen sie. Simon Forstmeier freut sich schon auf den Kongress in Jerusalem.