Top-Ergebnis im Psychotherapie-Studium
„Ich esse kaum noch, sonst wird mir schlecht“, sagt die junge Frau und zupft nervös an ihrem Ärmel. Elisa Braunsdorf hört aufmerksam zu, fragt nach, erklärt behutsam, was eine Anorexie ist – eine Form der Essstörung, bei der Betroffene versuchen, die Kontrolle über den eigenen Körper zurückzugewinnen. Sie beschreibt mögliche Behandlungsschritte, spricht über Unterstützung und Therapie. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken, dass es sich um eine Therapie-Sitzung handelt. Aber die Szene spielt nicht in einer Praxis, sondern in einem Prüfungsraum der Universität Siegen. Elisa Braunsdorf ist die Prüfungsteilnehmerin, die Patientin ist eine Schauspielerin, die Situation Teil der staatlichen Approbationsprüfung für angehende Psychotherapeutinnen und -therapeuten.
Die 25-Jährige Elisa Braunsdorf ist eine von insgesamt 17 Studierenden des Masterstudiengangs „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ der Fakultät II der Universität Siegen, die im Herbst die staatliche Approbationsprüfung bestanden haben. Erfolgsquote im ersten Jahrgang in Siegen: 100 Prozent. Sie alle dürfen sich offiziell Psychotherapeutin bzw. Psychotherapeut nennen. In Nordrhein-Westfalen traten 114 Personen zur Prüfung an. Bundesweit lag die Durchfallquote im vorherigen Durchgang bei knapp zehn Prozent. „Dass bei uns alle Studierenden im ersten Versuch bestanden haben, macht uns sehr stolz“, sagt Professor Dr. Tim Klucken. „Wir fühlen uns bestätigt, dass wir in unserem Studiengang die Studierenden optimal auf ihr Berufsleben vorbereiten.“ Klucken leitet die Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie und ist Sprecher des Departments Psychologie der Uni Siegen.
Empathie trifft auf Fachwissen
Die Approbationsprüfung folgt auf den offiziellen Studienabschluss und besteht aus zwei Teilen: einer anwendungsorientierten Parcoursprüfung mit Schauspielpatienten und einer mündlich-praktischen Fallprüfung. Bewertet werden dabei zum Beispiel Diagnostik, therapeutische Beziehungsgestaltung und Patientensicherheit. Teilweise bewerten externe Prüfer die Studierenden. Die Prüfung wird zentral organisiert, die Anforderungen sind an allen Universitäten vergleichbar.
Elisa Braunsdorf berichtet aus ihrer Parcoursprüfung von zwei Fällen – einer Anorexie-Patientin und einem Patienten mit Agoraphobie, also der Angst vor öffentlichen Orten. Die Schauspiel-Patienten bleiben 30 Minuten lang ganz in ihrer Rolle, die Prüflinge simulieren eine Therapiesitzung – alles möglichst realitätsnah. „Die Situation in der Prüfung fühlte sich überhaupt nicht geschauspielert an. Ich habe alles um mich herum vergessen – sowohl die Prüfer als auch die Zeit, die limitiert war“, berichtet Braunsdorf. „Unsere Aufgabe war es, zu erklären, was hinter den Symptomen steckt und wie eine Therapie helfen kann. Wichtig ist, nicht nur Wissen herunterzubeten, sondern empathisch zu sein und psychologisches Wissen in verständlicher Form zu vermitteln.“
Die Hälfte des Studiums besteht aus Praxistraining
Im Studium wird diese Verbindung von Theorie und Praxis intensiv trainiert. „Wir haben zum Beispiel gelernt, wie man Gutachten schreibt und Patienten anleitet“, erzählt Braunsdorf. Ein Jahr lang absolvierten die Studierenden Praktika – Elisa Braunsdorf in der Hochschulambulanz der Uni Siegen und in einer Tagesklinik. Vier Patientengeschichten hat sie besonders eingängig studiert und vorbereitet. Denn ein großer Teil der Approbationsprüfung besteht darin, dass eine dieser Geschichten in der mündlich-praktischen Prüfung ausgewählt und besprochen wird. Hier muss Elisa Braunsdorf ins Detail gehen und kritische Fragen beantworten: Warum hat sie diese Diagnose gestellt und keine andere? Welche Symptome sind für das Krankheitsbild typisch? Welche Rolle spielt die Biografie des Patienten? Außerdem geht es in diesem Prüfungsteil um Methoden- und Fachwissen aus dem gesamten Masterstudium, zum Beispiel zur Schweigepflicht oder zu psychotherapeutischen Leitlinien.
Für Elisa Braunsdorf war der erfolgreiche Abschluss ein entscheidender Moment: „Die Approbationsprüfung ist der einzige Weg zu meinem Berufsziel als Psychotherapeutin. Ich war vorher unglaublich nervös – im Nachhinein weiß ich, dass wir so gut vorbereitet waren, dass ich mir weniger Stress hätte machen müssen. Als ich erfahren habe, dass ich bestanden habe, war ich einfach nur erleichtert und glücklich.“ Ihr nächster Schritt führt sie in eine Tagesklinik im Sauerland. Dort wird sie voraussichtlich als Psychotherapeutin in Weiterbildung arbeiten – der vorgeschriebene Weg, um sich in einem spezifischen therapeutischen Verfahren zu spezialisieren und um eine Zulassung für einen Kassensitz zu bekommen. Ob sie später für eine Promotion an die Uni zurückkehren wird, hält sie sich offen. „Das kann ich mir schon gut vorstellen, aber jetzt freue ich mich erstmal auf die Arbeit mit meinen zukünftigen Patientinnen und Patienten.“
Der Masterstudiengang „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ ist einer der beliebtesten an der Uni Siegen: Im aktuellen Jahrgang hatten sich auf ursprünglich 45 Plätze über 1000 Interessierte beworben. Es wurde auf rund 70 Plätze aufgestockt.